Bocholter Arbeitern die Kernkompetenz abgesprochen

Siemens will 500 Jobs am traditionsreichen Standort Bocholt abbauen. Arbeiter resignieren, die Gewerkschaft gibt ein Rettungsgutachten in Auftrag

BOCHOLT taz ■ Im ältesten Siemenswerk Nordrhein-Westfalens steigt die Wut über die Münchner Konzernleitung. Nachdem das Unternehmen Mitte November den Abbau von 500 Arbeitsplätzen am Standort Bocholt bekannt gegeben hatte, reagierten die insgesamt 2.500 Beschäftigten im westlichen Münsterland mit Warnstreiks und Protestkundgebungen. 260 Jobs in der Handy-Produktion sollen ersatzlos gestrichen werden. Und das, obwohl Siemens seinen Marktanteil bei Handys im dritten Quartal in Europa von 9,5 auf 17 Prozent gesteigert hat. Zudem wird die Reparatur- und Servicewerkstatt von Bocholt nach Ungarn verlagert. Die Gewerkschaft IG Metall will Vorstandschef Heinrich von Pierer beweisen, dass die Arbeitsplätze in Bocholt rentabel sind. Bis Mitte Dezember sollen die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young dazu ein Gutachten vorlegen.

“Wir haben ganz einfach ein Beschäftigungsproblem, weil immer weniger Leute immer mehr Telefone herstellen können“, verteidigt Betriebsleiter Friedrich Schröder die Downsizing-Pläne. Um den Standort Bocholt zu sichern, müsse dieser schwierige Anpassungsprozess nun erfolgen. Bereits im Vorjahr seien rein rechnerisch rund 100 Mitarbeiter zu viel beschäftigt worden, meint Schröder. Er verweist auf den ständig wachsenden Kostendruck auf dem Markt für Mobiltelefone. Die Reparaturabteilung werde in Ungarn um bis zu 25 Prozent kostengünstiger arbeiten.

Die Arbeiter-Vertreter sehen das anders. „Die Leistung eines Betriebs darf man nicht auf den Personalkostenanteil reduzieren“, sagt Betriebsrat Michael Stahl. Die Qualifikation der Bocholter Beschäftigten werde Siemens in Ungarn nicht finden. Diese Kernkompetenz werde den Siemens-Arbeitern offensichtlich abgesprochen, kritisiert Stahl. „Anders kann man die Pläne der Konzernleitung nicht deuten.“ Um die Manager noch umzustimmen, hat die IG Metall bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young ein Gutachten in Auftrag gegeben. Bis zum 17. Dezember müssen die Experten Fakten zusammentragen, die den Erhalt der Servicewerkstatt in Bocholt rechtfertigen sollen. „Wir werden Arbeitsplätze durch die Einführung der 32-Stunden-Woche retten“, so IG-Metall-Vertreter Heinz Cholewa zur taz. Dadurch könne man 110 der 260 bedrohten Jobs sichern, rechnet Cholewa vor.

„Man muss alles versuchen“, sagt der Metaller. Die lokalen Bundes- und Landtagsabgeordneten hätten an Siemens-Chef von Pierer geschrieben. Der Manager will noch einmal über „Alternativen“ nachdenken und auch das Ernst & Young-Papier in Betracht ziehen. Siemens Bocholt ist einer der ältesten Siemens-Standorte, die Arbeiter verstanden sich jahrzehntelang als Mitglieder der großen Siemens-Familie. Als die Berliner Zentrale nach dem Weltkrieg in Trümmern lag, arbeitete Vorstandschef Ernst von Siemens von Bocholt aus am Comeback des Unternehmens. 50 Jahre später trauen viele Siemens-Kollegen der Zentrale nicht mehr über den Weg. „Die Stimmung ist beschissen“, sagt Gewerkschafter Cholewa. MARTIN TEIGELER