ITALIEN: SELBSTIMMUNISIERUNG ALS KOLLEKTIVE PRAXIS
: Wo sich die Paragrafen biegen

Kaum eine Nachricht wert war es gestern den italienischen Medien, dass das Verfassungsgericht in Rom die Verhandlung über Berlusconis Immunitätsgesetz eröffnete. Italien scheint bloß noch die Schultern zu zucken im Angesicht eines Ministerpräsidenten, der seine Skandale nicht etwa per Rücktritt aus der Welt schafft, sondern durch das Zurechtbiegen von Paragrafen: Das im Sommer von der Regierungsmehrheit verabschiedete Immunitätsgesetz bescherte dem gegen Berlusconi laufenden Prozess wegen Richterbestechung die vorläufige Einstellung.

Das Schulterzucken leuchtet einem Deutschen nur schwer ein – schließlich regt man sich bei uns schon über ein paar dienstlich er- und privat abgeflogene Bonusmeilen wochenlang heftig auf. Das wiederum fanden die Italiener zum Lachen: So was soll ein Skandal sein? Große Teile der italienischen Wählerschaft lassen sich durch Flecken auf der Weste ihrer Repräsentanten kaum beeindrucken – wer selbst die Legalität im Alltag für eine freiwillige Leistung hält, verzeiht das auch dem von ihm Gewählten. Oder rechnet es ihm sogar hoch an.

Berlusconi soll Bilanzen gefälscht, Schwarzgelder ins Ausland geschafft und Steuern hinterzogen haben? Unter Italiens Selbstständigen gehört das zum guten Ton. Schon 2001 waren alle Vorwürfe gegen Berlusconi bekannt; trotzdem – oder gerade deswegen – gab ihm die Mehrheit die Stimme.

Und man kann Berlusconi kaum vorwerfen, er habe sich bei seinen Wählern nicht revanchiert. Bilanzfälschung ist keine Straftat mehr; Schwarzgelder können gegen einen Mini-Obolus legal aus dem Ausland zurückgeführt werden; im Staatshaushalt 2003 gab’s eine umfassende Amnestie für Steuersünder; im kommenden Jahr werden hunderttausende Schwarzbauten legalisiert und gibt es – wegen großen Anklangs beim Publikum – gleich wieder eine Steueramnestie auf die Einkommen des Jahres 2002. Fehlt bloß noch die Steueramnestie direkt fürs laufende Jahr. So einen Ministerpräsidenten haben sich Millionen Italiener gewünscht: einen, der die neue Kategorie „Gesetzesbruch mit staatlichem Segen“ fest in der Politik verankert. Und der das auch ganz privat vorlebt.

MICHAEL BRAUN