berliner szenen Harfe und Hammer

Aragorn in der S-Bahn

S-Bahn-Linie 7, Richtung Wannsee. Beim Einsteigen in Lichtenberg schweben einem zarte Harfenklänge entgegen, doch der dazugehörige Musiker ist nirgends zu sehen. Stattdessen bemerkt man einen massigen, langhaarigen Mann in mittelalterlichen Gewändern, der einen CD-Player neben sich auf den Sitz gestellt hat. Die Mittelaltermucke stammt aus der Konserve.

Der Recke trägt eine schwarze Lederweste, einen langen Mantel und schwere Stiefel. Typ „Aragorn“, würde man schätzen, nur dass dieser Fleischberg aussieht, als könnte er mit bloßen Händen einen Bären erwürgen. Da man ungern nach einem langen Tag in ein Gespräch mit einem Freizeit-Wikinger verwickelt werden möchte, setzt man sich mit dem Rücken zu ihm.

Plötzlich durchbricht ein lauter Knall das Mittelaltergedudel. Erschrocken wenden sich alle Köpfe in der Bahn dem Recken zu. Dieser hat einen schweren Hammer aus seinem Gepäck gezogen und schlägt jetzt einen handlangen Eisennagel in einen Holzklotz. Diese Tätigkeit ist offensichtlich so komplett sinnlos wie das Nägeleinschlagen auf einem Schulhoffest. Nur dass dieses riesige Kind mit seinem Hammer dabei etwas bedrohlich wirkt.

Jetzt machen sich zwei Jugendliche über den Recken lustig. Man hält den Atem an und sieht im Geiste schon den Hammer fliegen. Der Riese holt einen zweiten Nagel aus der Tasche und haut ihn in den Klotz. Die beiden Jugendlichen bieten ihm eine Zigarette an. „Nee, danke“, sagt jener, „lieber ein Pfeifchen oder ein Tütchen.“ Ach so! Der Wikinger steht unter dem beruhigenden Einfluss von THC! Erleichtert verlässt man bei Warschauer Straße die S-Bahn. Der Riese mit seinem Holzklotz düst weiter in die Nacht. TIM ACKERMANN