Sensation im Konjunktiv

Vor siebzig Jahren montierte der Fotograf Moï Wer 110 Aufnahmen zu einem Bilderrätsel. Nun konnte es endlich erscheinen: eine melancholische Revue der Avantgarde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg

Anhand dieser Rätselbilder kann man einer gewesenen Moderne nachspüren, die Schlüssel ihrer Syntax suchen

VON IRA MAZZONI

Der Titel des Bandes: „Ci-contre“, was nicht mehr bedeutet als gegenüber, nebenstehend – und sich eher auf das Layout bezieht als auf die Motive. Zwar ist für das Auge der Kamera alles gegenüber. Aber was Moï Wer in diesem Band zeigt, sind keine Leica-Momentaufnahmen von der anderen Seite, sind keine Dokumente urbanen Lebens, sondern Kompositionen. Bis zu fünf Negative übereinander kopiert er auf ein Fotopapier. Seine Bilder entstehen in guter Bauhausmanier nicht auf der Straße, sondern im Labor.

Moï Wer jongliert mit seinem Material, dreht die Motive, stellt sie quer in den Raum, schiebt Geäst solange gegeneinander, bis sich im Gewirr eine Maske zeigt, montiert Straßenbilder so, dass sich im diffusen Gegenlicht zwischen dunklen Häuserzeilen eine Brücke abzeichnet, die es nicht gibt, und lässt einen Ozeandampfer in einer Auslage von Reiseutensilien baden. Das alles ist meisterlich gemacht. Wäre dieser Band 1931 publiziert worden, er wäre eine Sensation gewesen. Heute ist er nur Historie. Eine etwas melancholische Revue der Avantgarde kurz vor der Machtergreifung der Nazis, kurz vor dem Exodus, dem Holocaust, dem totalen Krieg.

Genau deswegen konnten diese Bilderrätsel nicht mehr publiziert werden. Franz Roh, der mit seiner Publikation „foto-auge“ und der 1930 begonnenen Buchreihe „Fotothek“ zu den ersten Adressen der Avantgarde-Fotografie zählte, fand für das 42-Seiten-Werk keinen Verlag mehr. Er selbst wurde von den Nazis mit Berufsverbot belegt.

1968 erwarben Ann und Jürgen Wilde Teile des Nachlasses von Roh, darunter das Konvolut „Ci-contre“, auf dessen Titel die Silhouette des Eiffelturms in die Fänge einer Brennnessel gerät. Die Wildes begannen zu recherchieren, wer dieser auf dem Titel genannte Moï Wer gewesen sei.

Der Typograf Jan Tschichold, der „foto-auge“ gestaltet hatte, wusste schließlich weiter. Moï Wer lebte als Moshé Raviv in der von ihm mitbegründeten Künstlerkolonie Safed in Israel. Der Kontakt gelang spontan. Zum 100. Geburtstag des 1995 Verstorbenen haben die Wildes nun eine an das Originallayout angelehnte bibliophile Erstausgabe und eine Studioausstellung in der Pinakothek der Moderne organisiert. Das Bilderrätsel allerdings harrt der Entschlüsselung. Wahrscheinlich kann man diese facettenreichen Schichtungen, die merkwürdigen Bildpaarungen, diese Gewebe aus Strukturen und Oberflächen gar nicht entwirren.

Das Werk ist wie das Leben des Fotografen durch Lücken und Brüche bestimmt: Geboren als Moïse Werebeischyk bei Wilna, das damals zu Weißrussland gehörte, begann er 1924 mit dem Studium der Malerei, im Wintersemester 1927/28 nahm ihn das Bauhaus Dessau auf, im Herbst 1928 wechselte er an die École technique de photographie et cinématographie. An der Académie moderne besuchte er zusätzlich Abendkurse bei Fernand Léger. Die überlappenden Schrägen und Steilen von Légers postkubistischen Bildern, die harten Hell-dunkel-Kontraste, die surrealen Überblendungen, all das findet sich in den Bildmontagen des jungen Fotografen wieder.

1931 veröffentlichte er unter dem polnischen Namen Moses Vorobeichic seinen ersten Fotoband: „Ein Ghetto im Osten – Wilna“ im Züricher Orell Füssli Verlag. Noch im selben Jahr erschien in einer Auflage von 1.000 Stück der Band „Paris“ mit einer Einleitung von Fernand Léger, diesmal unter dem Pseudonym Moï Wer. Das Werk machte ihn berühmt, brachte Veröffentlichen in Vu und Paris Soir und einen Vertrag mit der Agentur Globe-Photo. 1932 berichtete Moï Wer im Auftrag von Globe-Photo über die jüdische Olympiade in Palästina, 1934 wanderte er aus. 1937 porträtierte er noch einmal das jüdische Leben in Polen.

Nach dem Militärdienst 1948 gab Moï Wer die Fotografie ganz auf und widmet sich der religiösen Malerei. Sein neuer Name: Moshé Raviv. Identitätssplitter eines jüdischen Künstlerlebens im 20. Jahrhundert. Die Ausstellung und Edition von „Ci-contre“ bieten nun die Gelegenheit, den Rätselbildern der gewesenen Moderne nachzuspüren, den Schlüssel zu ihrer Syntax zu suchen. Die Badekappensphinx stürzt sich schließlich nach verwirrenden Passagen kopfüber in die flache Brandung. Wer wusste ihre Fragen zu beantworten?

Ausstellung bis 27. 2. 05 in der Pinakothek der Moderne, München. Buch: „110 Photos de Moï Wer“. Hg. vonAnn und Jürgen Wilde, 90 Seiten im Quadtone-Verfahren, 49 €