Schweizer Wahlkrimi voller Spannung

Heute könnte das seit über fünfzig Jahren bewährte eidgenössische Regierungssystem der Konkordanz fallen

GENF taz ■ In der Schweiz interessiert seit Wochen nur ein Thema: der Wahlkrimi, der heute Morgen um 8 Uhr im Berner Bundeshaus beginnt. Dabei geht es – wie immer nach Parlamentswahlen – nur um die Neubestimmung des Bundesrates, der siebenköpfigen Schweizer Regierung. Doch erstmals ist das Konkordanz-Modell bedroht, nach dem sich die eidgenössische Regierung seit über 50 Jahren aus Vertretern der vier stärksten Parteien zusammensetzt: je zwei Mitglieder der Sozialdemokraten (SP), der mitte- bis rechtsbürgerlichen Freisinnigen (FDP) und der Christlichen Volkspartei (CVP) sowie aus einem Vertreter der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP).

Nachdem die SVP, einst die kleinste Partei, bei den Wahlen Mitte Oktober zum zweiten Mal seit 1999 die SP überholte und stärkste Partei im Nationalrat (entspricht dem Deutschen Bundestag) wurde, meldete SVP-Führungsfigur Christoph Blocher ultimativ den Anspruch auf einen zweiten Sitz in der Regierung an. Nicht nur das: Blocher, der markanteste und zugleich umstrittenste Politiker des Landes, verlangte diesen zweiten Sitz für sich persönlich und forderte, die CVP, die bei den Wahlen die wenigsten Mandate eroberte, müsse einen ihrer bisherigen Sitze abtreten. Ansonsten gehe seine SVP in die Opposition. Das wäre das Ende jeglicher Konkordanz.

Doch die CVP lehnte die Forderung von Blochers SVP ab. Auch die FDP (drittstärkste Partei) und die SP beharren auf ihren beiden Sitzen. Im Unterschied zu sonst scheiterten alle Versuche der Absprache. Und falls gestern Abend nicht doch noch eine(r) der beiden CVP-Bundesräte den Verzicht auf die Wiederwahl erklärt hat, beginnt heute Morgen eine völlig offene und möglicherweise höchst chaotische Abstimmungsschlacht.

Wahlgremium ist die Bundesversammlung, bestehend aus den 200 Mitgliedern des Nationalrates und den 46 Abgeordneten des Ständerates (entspricht dem Deutschen Bundesrat). Abgestimmt wird zunächst über die sechs der sieben bisherigen Regierungsmitglieder, die erneut antreten – und zwar nach der Reihenfolge ihrer Amtsdauer. Als einigermaßen sicher gilt lediglich, dass in den ersten beiden Runden Verkehrsminister Moritz Leuenberger (SP) und Innenminister Pascal Couchepin (FDP) die zur Wiederwahl erforderliche Mehrheit von mindestens 124 Stimmen erhalten. Doch in den Wahlrunden drei und vier will Blocher gegen die beiden CVP-Minister Ruth Metzler (Justiz) und Joseph Deiss (Wirtschaft) antreten. Gerechnet wird mit jeweils bis zu 20 Wahlgängen für diese Runden. Dasselbe gilt für die Runden fünf (Verteidigungsminister Samuel Schmid, SVP), sechs (Außenministerin Micheline Calmy-Rey, SP) und sieben (Wahl eines Ersatzes für den abtretenden Finanzminister Kaspar Villiger, FDP). In einer Wahlrunde zunächst unterlegene KandidatInnen können in späterern Runden erneut antreten. Gelingt es der Bundesversammlugn heute nicht, sieben Regierungsmitglieder zu bestimmen, soll die Wahl am 19. 12. fortgesetzt werden. ANDREAS ZUMACH