berliner szenen Übersehen werden

Zuwendungsdefizite

Hasenheide, die erste: Eine junge Frau in abgerissener Kleidung läuft durch die Talsenke der Hasenheide. Unablässig grölt sie: „Dann knallt mich doch ab! Knallt mich doch ab, wenn ich nicht leben soll!“ Ihre Stimme ist sehr laut mit derber Berliner Färbung. Die vorüberlaufenden Jogger, ein paar Dealer an der Ecke und die aus dem Hundeauslauf gucken kurz und wenden sich wieder ab. So plötzlich, wie die Frau auftauchte, ist sie auch wieder verschwunden. Allgemeines Kopfschütteln. Wie sie da über die Wiese lief, war sie ganz alleine und niemand da, der auf die Idee käme, ihr so viel Zuwendung zu gewähren, wie es brauchte, um sie zu erschießen.

Schöneberg, Feurig-, Ecke Herbertstraße: Auf der Bank an der Kreuzung, wo sich die Trinker treffen, ist auch eine Frau dabei. Sie ist dünn, auf keinen Fall alt und sieht heruntergekommener aus als die Männer. Türkische Kinder stehen in sicherem Abstand um sie herum und reizen sie. Da springt die Frau von der Bank auf und torkelt ein paar drohende Schritte auf sie zu. Dazu rudert sie mit den Armen und stößt unverständliche Verwünschungen aus. Die Kinder weichen fasziniert ein paar Schritte zurück. Ein schönes Spiel, bei dem die Bitte „noch mal, noch mal“ immer wieder erfüllt wird. Die Frau will die Kinder weghaben, sie sollen weg, denn sie übersehen sie nicht mal, sondern führen ihr vor, was von ihr übrig geblieben ist. Ganz wenig, und das in schlechtem Zustand. Ihre Trinkkameraden halten sich amüsiert raus.

Hasenheide, die zweite: Ein junger Mann liegt mit bauchfreiem T-Shirt auf einem kalten Asphaltweg, völlig weggetreten, und lächelt selig. „Soll ich dir aufhelfen oder möchtest du liegen bleiben?“ – „Kannst gehn“, sagt er freundlich. KATRIN SCHINGS