: Zeit wird Raum
Was die Terminologie der Minimal Music mit dem Vokabular der Kernphysik zu tun hat: Das ensemble Intégrales spielt morgen Abend im Hörsaal des DESY in Hamburg
Das zu Ende gehende Jahr 2003 war das zehnjährige Jubiläumsjahr des ensemble Intégrales. In einem abschließenden Konzert in seiner Heimatstadt präsentiert das Hamburger Ensemble für Kammermusik nun unter anderem zwei Werke von Steve Reich im Hörsaal des Elementarteilchenbeschleunigers DESY. Das geht gut zusammen, so scheint es. Phase shifting pulse gate und resulting patterns, Skalenrepertoire und Tempodifferenzen, Schleife und Zyklus und die Divergenzen der Phase und so weiter: dies ist ein Kräuselmuster konkreter Poesie aus der Terminologie der Minimal Music; könnte aber auch aus dem Vokabular der Molekularphysik stammen.
Seit zehn Jahren also widmet sich das ensemble Intégrales insbesondere den Werken einer junger Generation von Komponisten. Die Neue Musik liegt dem Kammerorchester am Herzen, und mit großer Verantwortung spielen sie Stücke von weithin noch unbekannten Musikern wie Burkhard Friedrich – selbst Gründungsmitglied des Orchesters –, Netochka Nezvanova oder Olga Neuwirth. Die wiederum sind so erfreut über die Zusammenarbeit mit dem Ensemble, dass sie für es komponiert haben. In unterschiedlichen Besetzungen ist dieses runde Dutzend Musiker ständig unterwegs, um für Neue Musik zu werben.
Das gilt auch für das Programm, das das ensemble Intégrales morgen vorträgt, und das gut in den Hörsaal des DESY zu passen scheint. Zielt die so genannte Klarlegungsästhetik Steve Reichs nach seiner eigenen Aussage doch gerade ab auf ein „völliges Hineinversenken in den Klang, ein totales sinnlich-intellektuelles Darin-Aufgehen“. Die adäquate Rezeptionsweise der Musik von Reich ist eine prozessuale und interaktive. Das Spannende beim Hören seiner Musik seien die „psycho-akustischen Nebenerscheinungen“, die in der Wahrnehmung „Kombinationsmelodien und virtuelle Resonanzverhältnisse“ entstehen lassen: „Ich möchte den Verlauf des Prozesses in der Musik von Anfang bis Ende hören können.“ So kommt es auch innerhalb der Rezeption, während des Hörens zu einer Phasenverschiebung: synchron-diachron, horizontal-vertikal, Verlauf und Zustand, Punkt und Linie, Gestalt und Ablauf und so weiter, und das Hör-Erlebnis wird halb Analyse, halb Meditation.
In gewiß gewohnt kongenialer Weise wird das ensemble Intégrales Aussagen des Komponisten interpretieren. Insgesamt stehen fünf Stücke auf dem Programm: Neben Reichs „music for pieces of wood“ und „violin phases“ stehen Werke von Marko Ciciliani (“KörperKlang“), Netochka Nezvanova (“la lumière, la lumière .. c`est la seule ..“) und Burkhard Friedrich (“no significant change – short cuts“).
Sascha Demand
morgen, 20 Uhr, Hörsaal des DESY, Nottgestraße 85, Hamburg
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