Kucken se ma: in Bremer Cafés

Die Schülerdemo hätte Willis Lesestunde fast platzen lassen. Ansonsten wird mittags im energiecafé ungehindert aus Lieblingsbüchern gelesen

Nein, das ist keine normale Lesung, die da stattfindet. Wild kreischende Schülerhorden verstopfen vor dem energiecafé die Sögestraße, bringen Autos und Straßenbahn zum Stillstand. Der Stargast des Mittags heißt Willi Lemke. Die Jugendlichen demonstrieren gegen das neue Schulgesetz. Eier fliegen. Vom Bildungssenator ist nichts zu sehen.

Ein bulliger Security-Typ versucht, die hohe Automatiktür zum Café vor der Nase der SchülerInnen zu verschließen. Schnell noch hinein gehuscht, aber dann: Der kritische Blick des Torwächters auf die journalistische Visitenkarte. Langhaarige werden an der Jacke gepackt und hinaus befördert. Ätsch, die Seitentür habt ihr vergessen.

Drinnen dann ist es fast wie immer: Vier mal pro Woche wird im energiecafé einem altbekannten Kultgegenstand gehuldigt: Dem Lieblingsbuch. Dienstags bis freitags, pünktlich um 12.12 Uhr, liest ein Mensch aus Bremen seinen MitbürgerInnen 20 Minuten lang vor. Na, nicht allen: Die Schüler müssen diesmal draußen bleiben.

Das Spannende an den Lesungen: Verbindungen zwischen Buchfiguren und Vorlesern entstehen. So wird Radio-Bremen-Redakteurin Christine Krause aus „Der kleine Prinz“ von de Saint-Exupery lesen – exakt 24 Stunden nach Lemke. Man ist neugierig auf den Menschen, der sich hinter diesem Träumerle-Klassiker verbirgt. Es gibt auch skurrile Termine: Am 18.12, stellt der Präsident der Rechtsanwaltskammer, Erich Joester, ausgerechnet Tucholskys „Merkblatt für Geschworene“ vor. Einen Tag später, am Freitag, kommt ein Überraschungsgast.

Es dürfte etwas leichter sein, an diesen Terminen ins energiecafé zu gelangen als beim Auftritt des Bildungssenators und seinem Lieblingsbuch. Sichtlich gezeichnet durch den Tumult vor dem Café beugt sich Willi Lemke über Ken Folletts Historien-Schwarte „Die Säulen der Erde“. „Ich habe keine Lust, mir Sachen sprengen zu lassen“, hatte er zu Beginn sein Erscheinen erklärt. Jetzt liest er konzentriert den Prolog des Romans. Eine grausige Episode, in der ein mysteriöser Dieb vor den Augen einer blutrünstigen Menge aufgeknüpft wird. Seine Geliebte verflucht den Mob und schwört ewige Rache.

Mit zunehmender Dauer erwärmt sich der Senator für seinen Vortrag. Als er die Worte des Fluchs vorliest, bekommt seine Stimme einen harten, grimmigen Tonfall. Arbeitet sich Lemke an etwas ab? Seine Hand zeichnet beim Lesen die „zackigen Kreise“, die ein „kopfloser Hahn im blutbefleckten Schnee“ hinterlässt, mit der Hand nach. Warum diese Voodoo-Einlage?

Unverkennbar steckt in der Lesung eine tiefere Symbolik: Der einsame Held, der allein einer wilden Meute entgegentreten muss. „Sie liefen meilenweit, um Blut zu sehen,“ schreibt Follett im Prolog über die Gassenjungs unter dem Galgen. „Sie müssen jedenfalls für mich keine Rache üben“, scherzt der Senator am Ende – im Geiste schon auf dem Weg zum nächsten Termin.

Recht hat er: Beim Verlassen des Cafés offenbart sich die ganze Magie von Lemkes Vortrag. Die Schülerdemo hat sich in Luft aufgelöst. Tim Ackermann

„Mittagslesungen“: jede Woche Di-Fr, energiecafé (Sögestraße), 12.12 Uhr