silke burmester
: SOS auf dem Bayern-Boulevard

Die „Münchner Abendzeitung“ nimmt die Welt ernst. Und bringt Unglaubliches zutage: den kritischen Bayern

An zirka 365 Tagen im Jahr sind wir Norddeutschen froh, dass Bayern am Ende der Republik liegt. Das ist weit genug weg, um sich nicht so aufregen zu müssen und die Illusion nähren zu können, das Geschehen dort habe wenig mit einem selbst zu tun.

Nun heißt es immer, die Münchner hätten so ein unheimlich gutes Boulevardblatt. Die Münchner Abendzeitung. Eine, die nicht wie die Bild versucht, die Welt entsprechend ihrer eigenen primitiven Vorstellung darzustellen, sondern ein Blatt, das die Dinge ernst nimmt und sie lediglich auf dem Niveau des einfacheren Volkes abhandelt.

Der zweifelnde Fischkopp nutzt beim München-Besuch die Gratisexemplare und beginnt sich zögerlich durch die Welt des Weißwurstfressers zu lesen. Ja, schön aufgeräumt das Blatt. Nicht sehr reißerisch und sogar informativ. Tatsächlich haben die Artikel viel mit Journalismus zu tun statt mit dessen Grenzen. Und dann, auf Seite 23, die Offenbarung: die Leserbriefsammlung zu einem zuvor erschienenen Artikel über die angebliche Erkrankung von Max Strauß.

Unter dem Titel „Bananenrepublik Bayern?“ und dem Vorspann „Anwalt: Max Strauß zu krank fürs Gefängnis. AZ-Leser zweifeln“, ist der Abdruck von elf Statements zusammengefasst, denen eines gemein ist: die Kritik am (bayerischen) System. Und während das Schweinchen-Dick-gleiche Antlitz des Sohnes von Franz Josef Strauß zunächst die Vorurteile des bayerischen Volkes bezüglich bündelt, weisen die Kommentare in eine neue Richtung: Sie öffnen den Blick für „den anderen Bayern“. Für den, der in der medialen Spiegelung kaum vorkommt: den kritischen.

Seit der letzten Landtagswahl wissen wir: „Jeder Dritte gegen Stoiber“. Doch dieses Drittel ist kaum wahrnehmbar. Was der mediale Filter durchlässt, sind Trachtenkerle à la Ottfried Fischer, Funktionäre wie Beckenbauer und Schicksen wie Uschi Glas. Vielleicht sollten sich die Medien zu einem Aktionsbündnis für dieses Drittel zusammenschließen, „SOS Bayern“ oder so. Denn wenn der Norddeutsche sich mal die Mühe macht, eine Liste aufzustellen mit den öffentlich wahrnehmbaren Bayern, dann sind mindestens 75 Prozent davon diejenigen, derentwegen man froh ist, dass Bayern am Ende der Republik liegt.