„Jaa-nu-tschen-ko“

Die Anhänger beider Lager protestieren weiter. Doch der amtierende Präsident Kutschma versucht Zeit zu gewinnen

AUS KIEW HEIKE HOLDINGHAUSEN

Auf der kleinen Ljuteranskastraße im Zentrum Kiews stapft ein kleines Grüppchen junger Männer den Bürgersteig entlang. An ihren Armen flattern blaue Bänder. Immer wieder rufen die Männer laut „Jaa-nu-koo-witsch!“ Direkt hinter ihnen marschiert ein weiteres Grüppchen, beide verschmelzen zu einem Protestzug. Nur tragen die hinten das Orange der Opposition und rufen „Juschtschenko!“ So schiebt sich die blau-orange Schlange mit dem Schlachtruf „Jaa-nu-tschenko!“ über den Bürgersteig.

Alexej, 22 und aus Dniepropetrovsk angereist, findet das nicht merkwürdig: „Der Bürgersteig gehört uns allen“, sagt er, „nur das wir mit Janukowitsch eben den besseren Kandidaten haben.“ Der scheint allerdings schwer angeschlagen. Politische Kreise in Kiew berichten, in Donezk versuche man schon, sich von Autonomie-Ideen Janukowitschs zu verabschieden. Selbst wenn das Parlament in Kiew sich gestern nicht entscheiden konnte, seiner Regierung das Misstrauen auszusprechen. Mehr als ein politisches Signal wäre diese Entscheidung ohnehin nicht gewesen – weil für den Präsidenten nicht bindend. Das letzte Wort hat Leonid Kutschma.

Mit seiner Forderung von Montag nach Neuwahlen hat er einen weiteren Versuch unternommen, eine Entscheidung zu verzögern. Die Zeit spielt gegen die Opposition, deren wichtigstes Pfund die Menschen auf der Straße sind, die nun schon seit zehn Tagen im Schneematsch Kiews frieren. Neuwahlen würden bedeuten, beide Wahlgänge zu wiederholen, eventuell mit neuen Kandidaten. Das könnte Monate dauern. Für Kutschma bliebe genügend Zeit, Janukowitsch zu entsorgen und einen Nachfolger aufzubauen. Es werden schon Namen geraunt, etwa der des smarten Serhi Tihipko, der Janukowitschs Wahlkampf managte und dafür sein Amt als Nationalbankchef ruhen ließ. Am Montag ist er von allen Ämtern zurückgetreten. Ihm wird am ehesten zugetraut, es mit dem Volkshelden Juschtschenko aufzunehmen. Der beharrt bislang darauf, nur die Stichwahl zu wiederholen.

Von dieser Option hält die Spanischlehrerin Anna, die vor dem Kiewer Bahnhof steht und einer Freundin das blaue Band Janukowitschs durchs Knopfloch friemelt, gar nichts. „Wozu denn, wir haben einen legalen Präsidenten“, wettert die 27-Jährige. „Woher soll denn das Geld für Neuwahlen kommen, wir sind doch eh pleite.“ Das Budget für das Jahr 2004 in der Ukraine ist schon jetzt aufgebraucht – wegen üppiger Wahlkampfgeschenke etwa an Rentner und Studenten, sagt die Opposition. Ein Haushalt für 2005 existiert nicht, eine Wirtschafts- und Finanzkrise droht.

Die Europäische Union wirke deshalb mäßigend auf die Opposition ein, heißt es in Kiew. Javier Solana lege großen Wert darauf, dass die Regierung geordnet weiterarbeiten könne, die Blockade ihrer Gebäude müsse aufgegeben werden. Die Blockade empört auch Annas Freundin Elena. „Wir stehen am Rande eines Bürgerkrieges“, sagt sie, „Neuwahlen bringen gar nichts, die Juschtschenko-Leute bleiben trotzdem auf der Straße“, sagt sie, „die wollen Blut sehen.“ – „In Wahrheit sind die total aggressiv“, entfährt es Anna. Nein, sie selbst hätte noch keinen Ärger gehabt, sie habe nur mit den Orangenen diskutiert. „Aber es sind ja nicht alle so vernünftig wie ich“, sagt sie. Das sei doch Pöbel dort, alles Kinder. Ihre Freundin Elena nickt. „Meine Eltern wohnen in Moskau“, sagt sie. Die riefen jeden Tag an, die würden ja im Fernsehen sehen, wie gefährlich Kiew gerade ist.

Das russische Fernsehen berichtet über die Proteste in der Ukraine ausgesprochen negativ. So hatte die Frau des Ministerpräsidenten Janukowitsch am Montag in einem Interview gewütet, die Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz würden mit Drogen aufgeputscht, die in Apfelsinen gespritzt würden. „Meine Eltern wollen, dass ich zu Hause bleibe“, sagt Elena. Sie gehe aber trotzdem demonstrieren. Auch ihr älterer Bruder flunkere die Eltern an. „Dabei ist der jeden Tag auf dem Unabhängigkeitsplatz“, sagt Elena, „er ist für Juschtschenko.“ Ständig würden sie streiten deswegen, „er sagt, ich sei blöd“.

Alexej aus Dniepropetrowsk blickt der blau-orange Schlange hinterher, die sich um die nächste Ecke windet. Drei Nächte hat bei einem Freund auf dem Sofa geschlafen, morgen fährt er nach Hause. Hält er einen Bürgerkrieg für möglich? „Gib den Leuten hier Waffen – die schießen nicht aufeinander, die erschießen die drei Präsidenten.“