„Ihr seid doch ein tolerantes Völkchen“

Rund 3.000 Niederländer leben in Berlin. Nur wenige von ihnen glauben, dass auch hier passieren könnte, was sich in den Niederlanden seit dem Mord an Theo van Gogh abspielt. Dafür seien die Unterschiede zu groß. Ein Stimmungsbild

Rund 3.000 Niederländer leben und arbeiten derzeit in Berlin. Sie pflegen keine „Gemeinde“ im engeren Sinn, doch der Mord an Theo van Gogh hat sie fast alle gleichermaßen erschüttert. Man diskutiert darüber – und über die parallele Debatte in Berlin, die Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) mit seiner Aussage, Multikulti sei gescheitert, angeheizt hat. Doch die Ansicht, Berlin sei von einer Anschlagserie wie in Holland nicht weit entfernt, teilen die Niederländer nur bedingt.

„Kulturelle Spannungen gibt es hier in gleichem Maße wie in den Niederlanden“, bemerkt Jan Konst (41), Professor für Niederländische Philologie an der FU Berlin. Unwahrscheinlich sei jedoch, dass eine Figur wie Theo van Gogh in Berlin genauso populär werden könnte. „Würde hier jemand derartige Aussagen über Moslems und Juden machen, würde er doch umgehend als Persona non grata erklärt werden“, sagt Konst, der seit Mitte der 90er-Jahre in Berlin lebt.

Zugleich unterscheide sich Berlin von den Niederlanden auch dadurch, dass hier ein größeres öffentliches Interesse für andere Kulturen erfahrbar sei – etwa in Veranstaltungen wie dem „Karneval der Kulturen“. Dabei werde der altmodische Begriff der „Völkerverständigung“ gelebt, eine Vokabel, die sich nicht ins Niederländische übersetzten lasse. Die öffentliche Debatte der Niederlande dagegen sei eher pragmatisch ausgerichtet, deshalb fänden sich darin kaum derartige abstrakte kulturelle Konzepte.

Diese Differenz bestätigt auch der Germanistikstudent Gijsbert Pols (24). Der Ton im politischen und gesellschaftlichen Leben sei hier „höflicher und gesitteter“ – auch im Umgang mit Ausländern. Pols, der kurz nach dem Mord an dem Politiker Pim Fortuyn nach Berlin zog, erinnert sich an viele Fragen, die ihm damals gestellt wurden: „Ihr seid doch so ein tolerantes Völkchen, wie kann denn da so etwas passieren?“ Ein Klischee, das korrigiert wurde. Seitdem hat sich sein Blick geschärft, auch für die Unterschiede in der gesellschaftlichen Debatte beider Länder. Polemische Aussagen, wie sie Van Gogh in Tageszeitungen machen konnte, hält er in Deutschland für undenkbar. In den Niederlanden sei ein „schärferer Ton“ alltäglich, eine „Brutalisierung“ im Umgang miteinander sowie in der Sprache. Ein Überbleibsel der viel zitierten Toleranz?

Für Timo ten Berge (33) – seit 1997 in Berlin – sind dagegen gewisse Parallelen zur für gescheitert erklärten Multikultur in Holland erkennbar. In Berlin lebten „verschiedene Kulturen nebeneinander, es findet wenig Interaktion statt, und dies kann auch in Berlin zu extremen Handlungen führen.“ Einen politischen Mord hält er jedoch für unwahrscheinlich, ebenso eine öffentliche Polemik à la Van Gogh. „In Deutschland gibt es deutlichere Grenzen, die nicht so schnell überschritten werden. Der Zeigefinger wird schnell erhoben.“

Ten Berge führt dies auf die deutsche Vergangenheit zurück. Auf Tabus, die noch nicht bewältigt sind und dadurch extreme Meinungsäußerungen in der öffentlichen Debatte nicht zulassen. Er schätzt den „unkomplizierten, informellen Umgang“ damit in den Niederlanden. Polemische Aussagen können verletzten, andererseits nennen sie die Dinge beim Namen. In dieser Hinsicht könne sich Deutschland noch etwas von den Niederlanden abgucken. In einem Punkt sind sich aber alle einig: Die viel zitierte Toleranz hat vor allem mit Indifferenz zu tun. Einem Luxus, den man sich lange erlaubt hat. JESSICA MANTHEY