Das Licht und die Abgeschiedenheit

„Ich verbringe drei bis vier Sunden pro Tag im Auto“, sagt Abbas Kiarostami. Denn im Auto ist genug Platz für eine ganze Welt. Eine Werkschau auf dem Filmfestival von Thessaloniki bot nun die Gelegenheit, sich mit dem iranischen Regisseur, seinem Werk und seiner Sonnenbrille vertraut zu machen

von DIETMAR KAMMERER

Abbas Kiarostami trägt eine schwarze Sonnenbrille, die er niemals absetzt. Nicht zur Pressekonferenz und nicht zum Journalisteninterview. Sie ist längst zu seinem Markenzeichen geworden, ein persönliches Erkennungsmerkmal, wie man es auch von anderen Filmemachern gewohnt ist: So wie Melvin van Peebles nie ohne Zigarre auftritt, Steven Spielberg grundsätzlich mit Baseballmütze unterwegs ist und Wong Kar-Wai in der Öffentlichkeit noch nicht ohne seine goldgefasste Sonnenbrille gesehen wurde. Aber bei Kiarostami ist die Brille durchaus mehr als nur modisches Statement. Sie erinnert an zwei der wichtigsten Voraussetzungen für das Werk des Regisseurs: das Licht und die Abgeschiedenheit.

Dass das Kino seine Geschichten nicht ohne Licht auf die Leinwand bringen könnte, ist eine Binsenweisheit. Dass Kino aber auch die Geschichte des Lichtes zu erzählen vermag, ist eine Einsicht, die die Filme Kiarostamis in ihren schönsten Augenblicken einem buchstäblich vor Augen stellen: in der gleißenden Helle am Ende von „Quer durch den Olivenhain“, als die beiden Protagonisten und ihre Geschichte in die Farben der Landschaft überzugehen scheinen. Im Verschwinden des Tageslichtes in „Der Geschmack der Kirsche“ beim Anbruch der Nacht, während im Hintergrund die elektrischen Lichter der Stadt und oben am Nachthimmel die ersten Sterne schimmern. In der Morgendämmerung in „Die Geburt des Lichtes“, einem fünfminütigen Kurzfilm, für den Kiarostami vier Monate lang jeden Morgen an dieselbe Stelle gefahren ist, um ein einmaliges Lichtereignis einzufangen.

Mit einer Ausnahme hat Kiarostami bislang sämtliche Filme in seinem Heimatland Iran gedreht, in den Straßen von Teheran, in der Wüstenlandschaft vor den Toren der Stadt oder in Koker, einem Bergdorf im Norden des Landes, das 1991 von einem Erdbeben vollständig zerstört und dessen Schicksal zum Schauplatz seiner so genannten Rostam-abad-Trilogie wurde („Und das Leben geht weiter“, „Wo ist das Haus meines Freundes?“, „Quer durch den Olivenhain“). Auf der Suche nach geeigneten Drehorten erkundet der Regisseur die Landschaft vom Auto aus. Irgendwann hat er gemerkt, dass das Auto auch ein Ort ist, an dem ein ganzer Film erzählt werden kann. „Ich verbringe persönlich drei bis vier Sunden pro Tag im Auto. Es ist ein großartiger Ort, um miteinander ins Gespräch zu kommen oder um alleine zu sein und nachzudenken. Der Lärm der Straße wird einfach ausgeblendet.“ In seinem jüngsten Spielfilm, „Ten“, lädt eine junge Frau nacheinander zehn Fahrgäste in ihr Auto und führt Gespräche mit ihnen: unter ihnen eine Prostituierte, eine alte gläubige Frau, ihr eigener Sohn. Der gesamte Film besteht aus den Aufnahmen von zwei Kameras, die am Armaturenbrett des Autos festgemacht sind und das Wageninnere filmen. In dieser minimalistischen Anordnung entfaltet sich ein Panorama des gesellschaftlichen Lebens im heutigen Iran. „Ich mag feste Kamerapositionen. Das Innere des Wagens ist fest, während außerhalb alles in Bewegung ist. Die Zuschauer können wählen, welche Perspektive sie einnehmen möchten.“ Der Betrachter ist unbeweglich, während auf der Windschutzscheibe die Bilder in Bewegung geraten. Die Fahrt im Auto gerät so zur Metapher der Kinosituation selbst.

Der Iraner ist bekannt dafür, sein Kino des poetischen Realismus mit selbstreflexiven Momenten zu mischen. „Der Geschmack der Kirsche“ endet mit einer Einstellung auf das Filmteam, das gerade die letzten Szenen dreht. Ein Zufall, wie Kiarostami einmal eingestand. Die eigentlichen Aufnahmen hatte ein Fehler im Kopierwerk zerstört, also griff der Regisseur auf die Szenen zurück, die sein Sohn mit der Digitalkamera von den Dreharbeiten eingefangen hatte. Jahre später griff Kiarostami für einen Dokumentarfilm über die Folgen der Aidskatastrophe in Afrika („ABC Africa“) selbst zum ersten Mal zur digitalen Technologie. Seither sind sämtliche seiner Filme ebenfalls digital entstanden. „In den Händen von jemandem, der damit umzugehen versteht, ist digitale Technologie wie ein Stift in der Hand eines Autors oder wie der Pinsel eines Malers. Es bedeutet, dass weniger Technik eingesetzt werden muss. Sie hilft, die Distanz zwischen dem Filmemacher und dem Gefilmten zu verringern.“ So entstanden „Ten on Ten“ und „Five“, jener ein Film, der die Arbeit des Filmens selbst in den Mittelpunkt stellt, dieser eine Meditation über Wasser, Licht und Zeit.

Doch die Wende, die die DV-Kamera im Werk des iranischen Bildpoeten einzuläuten schien, hat Kiarostami in Thessaloniki für beendet erklärt. „Ich habe mit diesen Filmen einen Kreis vollendet. Ich bin mit dem Genre an ein Ende geraten und werde es nicht weiter verfolgen. Diese Filme wurden nicht sehr gut aufgenommen, aber die mangelnde Anerkennung gab mir die Gelegenheit, meine Arbeit zu überdenken. Deshalb will ich wieder zurück zum narrativen Kino, und wieder Geschichten erzählen.“

Dass man weder viele Worte noch eine großartige Handlung braucht, um eine Geschichte zu erzählen, hat Kiarostami während seiner Jahre in der Werbebranche verinnerlicht, für die er in den sechziger Jahren Reklamespots schrieb. Wenn es sich in wenigen Bildern sagen lässt, ist jede weitere Einstellung zu viel. Auf Drehbücher und vorgefertigte Dialoge verzichtet er seit jeher, lieber investiert er Monate, um seine Darsteller, die meist keine Ausbildung als Schauspieler haben, kennen zu lernen. „Ich arbeite lieber mit Laiendarstellern. Mein erster Film [„Das Brot und die Straße“] handelte von einem Jungen, der mit einem Stück Brot in der Hand auf dem Weg nach Hause an einem Hund vorbeigelangen muss. Der Hauptdarsteller war ein siebenjähriger Junge und kein professioneller Schauspieler, der Hund war kein professioneller Hund und ich war kein professioneller Regisseur.“

Als Filmemacher ist er Autodidakt, der bei den Dreharbeiten nicht über mögliche Vorbilder oder Einflüsse nachdenkt. „Man folgt einfach dem eigenen Weg. Jeder Film findet, während er entsteht, sein eigenes Thema, seine eigene Story.“ Ins Kino geht er nur selten, lieber liest er, vorwiegend Poesie. Romane sind ihm verhasst, sagt er: zu viele Details, und dazu der Zwang des Autors, alles ständig zu erklären. Kein Wunder, dass Kiarostami sein Handwerk an der knappen Form gelernt hat. Knapp zwanzig Kurzfilme hat er seit seinem Erstling von 1970 gedreht, viele davon im Auftrag des „Instituts für die intellektuelle Entwicklung von Kindern und jungen Erwachsenen“. Kinder, Jugendliche und Alte sind seine bevorzugten Figuren geblieben: Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen, aber dennoch das Gedächtnis und die Erfahrung eines Landes einerseits, seine Zukunft und Hoffnung andererseits bedeuten.

Selten wohl hat ein Film das Zusammentreffen der beiden Generationen so liebevoll und auf milde Weise komisch dargestellt wie der Kurzfilm „Der Chor“, in dem ein alter Mann sein Hörgerät ausstöpselt, weil er den Lärm der Straße nicht länger ertragen mag, und sein Enkelkind ausgesperrt bleibt, weil ihr Großvater die Klingel nicht hört und sie selbst zu klein ist, um die Tür zu öffnen.

An einen politischen Auftrag des Kinos glaubt Kiarostami nicht. Auf Nachfragen von Journalisten, wie er zu dem Vorwurf von Exiliranern stehe, seine unpolitischen Filme würden die Herrschaftsverhältnisse im Iran letztendlich stärken, reagiert der sonst so sanft wirkende Filmemacher unwirsch. „Kein Mensch mit einem Minimum an Intelligenz kann glauben, dass ein Monster wie das iranische Regime von mir oder von Mohsen Makhmalbaf Unterstützung braucht, noch dass es von mir oder ihm gestürzt werden könnte. Es wäre reine Zeitverschwendung, solche Fragen zu diskutieren.“

Dennoch leugnet der Filmemacher nicht die Verantwortung, die er trägt. „Ins Kino zu gehen ist nicht dasselbe wie ein Buch zu lesen, Musik zu hören oder eine Ausstellung zu besuchen. Selbst wenn man mit Freunden ins Kino geht, ist man nach ein paar Minuten im Dunkeln allein. Dann ist es egal, wie gebildet man ist, man verwandelt sich wieder in ein Kind, und das Kino wird etwas, das über dir steht, es wird größer als du. Wir verlieren uns selbst, wenn wir einen Film erleben. Es ist eine ganz besondere Situation. Filmemacher können sehr gefährlich werden, wenn sie diese Macht des Kinos ausnützen. Es ist jedoch nicht ihre eigene Macht, sondern sie kommt aus der Dunkelheit des Kinosaales. Wir haben kein Immunsystem gegen die Bilder des Kinos.“