Der Wahn des Kulturalismus

Holland ist überall (6): Über Integration wird geredet, als ginge es um kulturelle Fragen. Dabei müsste gesellschaftliche Integration eigentlich über den Arbeitsmarkt stattfinden

Parallelgesellschaften sind die logische Antwort auf den Verlust der sozialen Absicherung durch den Staat

Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar, und die potenziell gefährlichsten Feindschaften begegnen uns an den Bruchlinien zwischen den großen Kulturen der Welt.“

Samuel Huntington in „The Clash of Civilisations“

Mittlerweile sind wir also auf diesem Niveau angekommen: Die Integrationsproblematik wird nur noch in den kulturellen Kategorien Huntingtons begriffen. Wir sind versessen auf Fragen nach kultureller Identität und fahnden nach Unterschieden. Die Debatte ist schier uferlos geworden, nichts fehlt aus dem Angebot der Kultursoziologie. Alles wird in einen Topf gerührt, und heraus kommt eine deutsche Identitätsdebatte.

Die Wortmeldungen der letzten Wochen haben dabei kein Thema ausgelassen. In deutschen Großstädten werden plötzlich Parallelgesellschaften entdeckt, als seien sie gestern vom Himmel gefallen. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bedauert den Zuzug von Gastarbeitern – und zwar den von 1965, heute gibt es bekanntlich keine mehr. Andere wie Edmund Stoiber reanimieren die Denkfigur des christlichen Abendlandes und fordern mehr Patriotismus: Bewerber für die deutsche Staatsangehörigkeit sollen einen Eid auf das Grundgesetz schwören. Jörg Schönbohm plädiert für Zuzugssperren in von Einwanderern dominierten Stadtteilen. Selbst Banalitäten – wie die Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse für die Integration von Einwanderern – kommen nun in den Genuss höherer Erkenntnis.

Gleichzeitig werden solche Sprachkurse reduziert. Für konservative Identitätssucher sind das jedoch bloß die Niederungen des Alltags: Sie werden konsequent ignoriert. Aber auch im Regierungslager gibt es überraschende Forderungen: Einwanderer hätten sich an die deutsche Verfassung zu halten und sollten nicht gegen Gesetze verstoßen, heißt es. Zudem seien Straftäter zu verfolgen und politische Extremisten zu bekämpfen – als ob Otto Schily in dieser Hinsicht bisher geschlafen hätte!

Nun kann man zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen an Schulen stehen wie man will, und über die Zwangsverheiratung junger Mädchen gibt es wohl keine Diskussion. Aber hängt die Integration der Einwanderer in Deutschland von kulturellen Unterschieden ab? Die Frage ist schon falsch gestellt. So gibt es über die kulturelle Identität von Italienern oder Griechen keine Diskussionen. Das liegt wohl kaum an ihrer vollständigen Assimilierung an eine deutsche Leitkultur, deren Inhalt bis heute keiner kennt. Sind sie etwa Deutsche geworden? Italiener und Griechen geblieben? Es interessiert niemanden, genauso wenig wie ihre religiöse Orientierung. Wer fragt schon bei ihnen nach den Details orthodoxer oder katholischer Theologie? Nur bei den Muslimen jedoch – und in Deutschland sind das vor allem die Türken – wird das Integrationsproblem unter kulturellen Gesichtspunkten thematisiert. Warum soll aber ausgerechnet die Kenntnis des Islams die entscheidende Frage für die Zukunft unserer Einwanderungsgesellschaft sein? Kaum jemand kennt die Bedeutung der orthodoxen Kirche für die kulturelle Identität der Griechen. Deren Integration ist an dieser Frage offenbar nicht gescheitert. Da gibt es keinen Vergleich mit dem Islam? Den Krieg zwischen katholischen Kroaten und orthodoxen Serben auf dem Balkan schon vergessen?

Dieser kulturalistische Ansatz ist nicht die Lösung, sondern das Problem, das Huntington beschreibt. Wer daran bisher einen Zweifel hatte, braucht bloß die absurden Debatten der letzten Wochen zu rekapitulieren. Sie sind der Nährboden, um die nicht bestreitbaren Spannungen weiter zu verstärken. Oder wie soll man die Bemerkungen von Jörg Schönbohm in der Welt sonst verstehen? Einwanderer seien wie „Fremdstoff in einer chemischen Lösung“. Es habe sich ein „Bodensatz“ gebildet und „Unkraut“ aus dem „Samen“ von „Volkspädagogen“.

Gleichzeitig werden die eigentlichen Gründe für das Integrationsproblem systematisch ausgeblendet. Nicht nur in der Argumentation von Jörg Schönbohm finden die sozialen und ökonomischen Veränderungen der letzten Jahre nicht statt. Tatsächlich sind hier aber die Ursachen für die wachsende Desintegrationsdynamik in unserer Gesellschaft zu finden. Sie hat ihren zentralen Integrationsmechanismus – die Integration über den Arbeitsmarkt – aufgegeben.

Besonders betroffen davon sind Migranten: Im Mai diesen Jahres waren nach Angaben der Bundesregierung fast 26 Prozent der Türken arbeitslos. Viele junge Türken haben weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung. Die schlechten sozialen Bedingungen kumulieren im Problem der Kinderarmut, die eben auch das Gesicht der Zuwanderer trägt. Von der so gerne postulierten Chancengerechtigkeit kann hier wohl kaum die Rede sein. Wen erstaunt da der Rückzug einer qualifizierten Minderheit auf eine diffuse kulturelle Identität, wenn diese Gesellschaft keine anderen Alternativen mehr anzubieten hat?

Das alles ist bekannt – und wird kaum noch thematisiert. Es kommt als Schicksal daher und ist tatsächlich Ausdruck politischer Entscheidungen. Deren fatale Konsequenzen sind dabei keineswegs auf Einwanderer beschränkt. Es betrifft zunehmend größere Gruppen in dieser Gesellschaft. Die Angst vor dem sozialen Abstieg reicht bekanntlich bis in die Mittelschichten hinein.

Stattdessen wird die Entwicklung von Parallelgesellschaften kritisiert. Warum eigentlich? Zentrales Ziel der gegenwärtigen Politik ist doch der Rückzug des Staates und der Umbau des Sozialstaates zugunsten von Subsidiarität und Eigenverantwortung. So gesehen, sind Parallelgesellschaften fast schon vorbildlich zu nennen. Ethnische oder religiöse Gruppen entwickeln eigene Lebensformen. In Zeiten staatlichen Rückzugs werden sie dann auch die unvermeidliche Vorsorge vor den Wechselfällen des Lebens eigenständig organisieren. Etwa durch kulturellen Zwang.

Nur bei den Türken wird so getan, als hätten Arbeitslosigkeit und Misserfolg mit ihrer Religion zu tun

Sogar die Verheiratung minderjähriger Töchter könnte man, so gesehen, dann auch als eine Rückkehr zur traditionellen Sozialpolitik unter modernen Bedingungen verstehen. Im letzten Jahrhundert hatte man noch den umgekehrten Weg beschritten. Der Sozialstaat ersetzte die frühen Formen der Absicherung, wie sie die Familie, die Sippe oder die Ethnie leisten mussten. Damit wurde zugleich der Weg aus der Enge gemeinschaftlicher Solidaritätsformen möglich: Das ist der Kern des Individualisierungsprozesses. Erst unter dieser Voraussetzung konnten übrigens junge Türkinnen einst, als „Gastarbeiter“ etwa, der zeitgenössischen Variante der Idiotie des Landlebens entkommen.

Aber von diesen kulturellen Kollateralschäden des Neoliberalismus will niemand etwas wissen. Stattdessen begeben wir uns auf Identitätssuche – und finden Hirngespinste. Am Ende degenerieren wir zum Spiegelbild der Islamisten. Über die Folgen sollte man sich nicht wundern. Wer will, kann sie bei Samuel Huntington nachlesen.

FRANK LÜBBERDING