Das Glück, in Erde zu graben

Vier Menschen in einer Grube: In Kälte, Matsch und dumpfer Feuchte beweisen sie, dass Bremen schon im Mittelalter über eine Toscana-Fraktion verfügte. Inklusive Blick auf‘s Wasser und Austernschlürfen

Was bringt einen 18-Jährigen dazu, stundenlang im Sand zu schaben?

Diesmal war der Baggerfahrer freundlich. Anstatt die verdächtig historisch aussehenden Steine gleich wieder zu verschütten um den geplanten Neubau nicht aufzuhalten, hat Herr Koldehofe den Landesarchäologen benachrichtigt. Und dann „mit unglaublicher Präzision“ beim Freilegen der mittelalterlichen Stadtmauer längs der Schlachte geholfen.

Grabungsleiter Dieter Bischop, der völlig verfroren in der gut acht Meter tiefen Grube hinter der Bürgermeister-Smidt-Brücke steht, freut sich über sein seltenes Glück – zumal jetzt erstmals ein Stück von Bremens ältester Stadtmauer (12. Jahrhundert) frei gelegt werden konnte. Und an der standen so genannte Geschlechtertürme: Hochgezogene Familiensitze, wie man sie aus italienischen Städten kennt. Kann sich jetzt auch Bremen ein „Manhattan des Mittelalters“ nennen, wie das bei Touristen so beliebte San Gimigniano?

Immerhin 60 bis 70 solcher Türme soll Bremen, toskana-gleich, gehabt haben. Und dort wurde durchaus genussorientiert gelebt, wie die zalhreichen ausgeschlürften Austernschalen beweisen, die Bischop aus dem Schlamm fingert. Neben etlichen Schmuckstücken, Messern, einem Frauenmedaillon und Schweinekiefern. Die interessierte Presse („aus welchem Jahrhundert war diese Scherbe noch mal?“) scheucht Bischop aus Gründen der Fotogenität in die verschiedensten Schichten seines Grabungsreiches, dann taucht auch noch die Sorte Fotograf auf, die sich als Dompteur der Szenerie versteht: „Nehmen Sie doch mal den Kratzer da in die Hand und arbeiten Sie was, das muss echt aussehen, aber gucken Sie dabei in die Kamera.“ Armer Archäologe.

Bischops Grubengefährten haben etwas mehr Ruhe: Zivildienstleistender, Praktikant und der längst berentete Grabungstechniker Carlchristian v. Fick, der immer noch Hand anlegt, wenn Not am Mann ist. Und das ist bei der fünf einhalb köpfigen Bremer Archäologie-Dienststelle eigentlich immer der Fall. v. Fick also gräbt sich gerade durchs 12. Jahrhundert, nämlich zu den Fundamenten der ursprünglich zehn Meter hohen Stadtmauer. „So kommt chronologische Ordnung in die Sache“, stellt er zufrieden fest. Am Gefälle des Geländes könne man im übrigen den wahren Kern des despektierlichen friesischen Sprichworts erkennen, demnach alles direkt in die Weser fließt, was man auf den Bremer Marktplatz scheißt. Auch die Devise „Lot liggen, tritt sich fast“, beweise ihre historische Richtigkeit anhand der zahlreichen in den Lehmfußböden zu findenden Keramikbruchstücke.

Kein Zweifel: Der mit allen Erdschichten vertraute Rentner freut sich in seiner Grube an anfassbarer Bremer Geschichte. Was aber bringt einen 18-Jährigen wie den Praktikanten Denis dazu, stundenlang mit klammen Fingern im bröckeligen Sand zu schaben? „Das ist interessant“, entscheidet Denis apodiktisch, auch der Zivi schaufelt genügsam weiter. In seiner Nähe glitzert verheißungsvoll ein Stückchen englischer Keramik, als Rückfracht des Bremer Bierexports hierher gelangt. Für den Abend lockt in der (beheizten) Werkstatt die Untersuchung eines gedrungenen Tontopfes, in dessen Innerem Bischop das „Bauopfer“ vermutet.

Vielleicht sind Archäologen die wahren Helden der Gegenwart. Nächstes Jahr soll über ihrer Grube ein „Design-Hotel“ entstehen. Möglicherweise inklusive der „Bar zur alten Stadtmauer“. Henning Bleyl

Sonntag, 15 Uhr: Führung auf dem Grabungsgrundstück An der Schlachte 64. Archäologische Methoden und Computersimulationen sind derzeit in der Ausstellung „Gefundene Vergangenheit“ im Focke Museum zu besichtigen