Ruhe unterm Weihnachtsbaum

Morgen demonstrieren bundesweit Studenten gegen Bildungsabbau. Retten sie den Protest ins neue Jahr hinüber?

Die Veranstalter nehmen den Mund ganz schön voll. An drei Orten gleichzeitig wollen die Studenten am morgigen Samstag noch einmal gegen die Kürzungen im Bildungssektor demonstrieren, in Berlin, Leipzig und Frankfurt am Main – und allein in der Hauptstadt erwarten die „mindestens 40.000 Teilnehmer“ bei ihrem Protestzug durch die Innenstadt.

Kein Wunder, dass es die Organisatoren des Protests in diesen Tagen besonders eilig haben. Denn alle Erfahrung lehrt: Wer jetzt nicht demonstriert, der kommt vielleicht gar nicht mehr. Bislang sind noch fast alle Uni-Streiks, die regelmäßig mit dem herbstlichen Semesterbeginn anfingen, an der Weihnachtspause gescheitert. Die Studenten fahren nach Hause, sitzen bei den Eltern unterm Christbaum und verabschieden sich anschließend in einen feucht-fröhlichen Silvesterurlaub. Kehren sie nach Dreikönig an die Hochschule zurück, hat sich die Empörung über den „Bildungsklau“ meist wieder arg relativiert.

Schon höhnt der Sozialwissenschaftler Wolfgang Kraushaar in einem Berliner Stadtmagazin, die Studenten seien geradezu „resistent gegenüber Lernerfahrungen“. Alle paar Jahre probierten die Hochschüler zu Beginn des Wintersemesters, ihren Ansprüchen zum Erfolg zu verhelfen, beobachtet der Chronist der Achtundsechziger. „Doch spätestens zu Beginn der Weihnachtsferien sind all die fantasievollen Formen der Mobilisierung wieder verpufft. Das hat fast schon die Symptomatik einer wiederkehrenden Grippe.“

Freilich hatten es die revoltierenden Studenten von 1968, an denen ältere Herren den Protest von heute gerne messen, vergleichsweise leicht. Sie brauchten im elterlichen Wohnzimmer nur eine Debatte über die Nazi-Vergangenheit anzuzetteln. Schon war die Atmosphäre bereits am Heiligabend so vergiftet, dass sich der Nachwuchs spätestens am Abend des 25. Dezember in der vertrauten Studentenkneipe wiederfand – und nahtlos an die vorweihnachtlichen Revolutionspläne anknüpfen konnte.

Heute haben die Studentenproteste eher die Funktion eines universitären Initiationsritus, wie es ihn in vielen Ländern gibt. Während die Erstsemester in Frankreich oder Belgien alljährlich einfach nur albernen Schabernack treiben, schreitet in Deutschland jede Studentengeneration aufs Neue zum politischen Protest. Aufrichtige Empörung über das Desinteresse, das dem Nachwuchs von der Politik entgegengebracht wird, mischt sich mit dem Spaß am Happening – etwa, wenn Studis nackt durch Fußgängerzonen rennen.

Geht aber erst mal um ganz konkrete Politik, ist es mit der Einigkeit schnell vorbei. Studiengebühren – ja oder nein? Braucht das Land mehr Genforscher – oder sind Soziologen für die Zukunft wichtiger? Über solche Fragen sind sich auch Studenten alles andere als einig. Doch gerade damit müssten sie sich ernsthaft auseinander setzen. Sonst ist auch dieser Protest spätestens im Januar vergessen.

RALPH BOLLMANN