Sein langsamer Atomausstieg

Es fügte sich gut: Viele Männer haben damals ihre Frauen im AKW gefundenAtomkraft war eine gute, saubere Macht. Etwas, das in die Zukunft weist

AUS RHEINSBERG UND BERLIN KIRSTEN KÜPPPERS

Einmal im Jahr steigen sie in die Autos und fahren hin. Sie nehmen den schnellen Weg über die Autobahn, die Landstraße durch die Wälder, zuletzt den holprigen Plattenweg an der Bungalowsiedlung vorbei. Auf dem Parkplatz stehen sie dann noch eine Weile verloren herum, warten, machen sich mit ein paar Witzchen locker. Aber eine gewisse Ernsthaftigkeit in der Sache lässt sich nicht weglachen. Eine Wichtigkeit, die zwischen Kopf und Kragen stecken geblieben ist.

Hinter dem Metalltor kommt ein Mann mit schwarzem Bart, er macht die Führung durchs Werk. Die alten Männer sind ganz ruhig. Sie wissen, die eigentlichen Fachleute sind ja sie. Die Projektanten. Die kleine Rentnergruppe in Freizeitblousons, die dann nickend und prüfend die Hallen abläuft, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Jede Armatur, jedes Gewinde, jeden Knopf kennen sie hier.

Dieses Atomkraftwerk wäre gar nicht da ohne sie. Das erste Atomkraftwerk Deutschlands in Rheinsberg, etwa 60 Kilometer nördlich von Berlin. 1966 ist es in Betrieb gegangen, der Staatssekretär trug Anzug und hat eine Rede gehalten. „Das war ja unser erstes großes Ding hier“, sagt einer. Und da ist es klar, dass sie kommen, der Rentner Wolfgang Nowak und die anderen, jetzt, da es demontiert wird, ihr Projekt. Ihr Atomkraftwerk, das in Wahrheit viel größer ist als dieser leere braune Kasten, den man noch sieht, der nach Ost-Auslegware riecht, wo im Foyer eine staubige Grünpflanze wartet, wo große gelbe Fässer davon erzählen, dass hier nur noch Stoffe weggeräumt werden und nichts mehr produziert. „Das war unser Leben“, sagt der 69-jährige Wolfgang Nowak, „alles, was danach kam, war Arbeit“. Und dieser Satz macht die Dimensionen vielleicht deutlich.

Das Leben fing 1959 an. Und wenn es ein Abenteuer werden soll, darf nichts fehlen: die Liebe nicht, die Konkurrenz, die gerechte Sache. Auch nicht das Scheitern. 1959 war die Atomkraft nicht das, was sie jetzt ist. Sie war keine lästige Meldung in den Abendnachrichten, in der bunt bemalte Studenten und Bauern auf Traktoren Gleise besetzen. Die Atomkraft war eine gute, saubere Macht. Etwas, das in die Zukunft weist. Die DDR wollte damit besser und schneller sein als der Westen. „Es war eine Euphorie da“, sagt Wolfgang Nowak.

Er war technischer Zeichner damals. Und wer behauptet, dass nur die Kriecher es in der DDR zu etwas bringen konnten, für den ist Wolfgang Nowak ein gutes Gegenbeispiel. Er ist nie in der Partei gewesen. Er war katholisch, deswegen ging er auch nicht zur Armee. Trotzdem haben sie ihn als 25-Jährigen in die „Projektierungsgruppe Kernkraftwerksbau“ gesteckt. Sie waren rund 50 junge Kerle und sie wurden nach Moskau geschickt. Unter Aufsicht der sowjetischen Chefingenieure sollten sie das erste Kernkraftwerk des deutschen Sozialismus projektieren.

Es war eine tolle Zeit. Tagsüber standen sie am Reißbrett und zeichneten Pläne, abends verbrüderten sie sich mit den Russen, tranken scharfen Wodka, liefen ins Bolschoi-Theater, „hatten auch Kontakt mit der weiblichen Bevölkerung“, sagt Nowak, und so ist es ja immer: dass nicht die Zahlen und Schaltbilder im Kopf hängen bleiben. Dass es nicht das Vernünftige ist, was bleibt, wenn die Tage zu einem Dasein in einer flachen Neubauwohnung in Berlin-Pankow geworden sind. Sondern dass man an das Leichte denkt, die Nächte, den Alkohol und die Mädchen. Das letzte Mal war Wolfgang Nowak vor einer Woche in Rheinsberg.

Hektisch war es damals in Moskau. Sie konnten gar nicht so schnell zeichnen, wie die Baustelle bei Rheinsberg voranging. Die Pläne wurden ihnen vom Brett gezogen und sofort verbaut. Mehr als 600 Arbeiter waren zeitweise auf dem sumpfigen Gelände zwischen Stechlinsee und Nehmitzsee beschäftigt. Es kann gut sein, dass in der Eile Fehler gemacht wurden, aber Nowaks Blick zurück ist mild. Als er auf der Baustelle als Kontrolleur eingesetzt wurde, wohnte er mit neun anderen in einer Villa, sagt er. Im Werk kontrollierte er die Rohrleitungen, die Behälteranlage für den Reaktor, den Turbinentisch, nach Feierabend durfte er einen alten BMW fahren.

Auf einer Feier im Kulturhaus hat er dann seine Frau kennen gelernt. Sie war eins von den Mädchen aus dem Schreibbüro. Sie hatte ein hübsches Lächeln, und sie tanzten zusammen zur Schlagermusik. Viele Männer haben damals ihre Frauen im Betrieb gefunden. Es fügte sich nicht schlecht. Die Menschen sorgten für das Atomkraftwerk, und das Atomkraftwerk sorgte für sie. Die Arbeiter bekamen eine eigene Wohnsiedlung. Es gab Zentralheizung, Kindergärten, eine Kabarettgruppe. Und in der Verkaufsstelle lagen ungarische Salami und Südfrüchte. Manchmal sind sie im Winter nachts losgezogen und haben im See Hechte gefangen, erzählt Nowak. Einer von ihnen hat dazu auf der Klarinette geblasen. Sie waren jung und betrunken, und es war schön.

Natürlich ist das nur die Fassade. Es war die Zeit, als die Mauer durch Deutschland gebaut wurde, der politische Druck war spürbar. „Wir wurden verpflichtet, keine Geheimnisse auszuplaudern“, sagt Nowak. Ihre Post wurde gelesen, manchmal folgte ihnen ein Auto, beim Schwiegervater gab es eine Hausdurchsuchung. „Da haben wir gemerkt, dass die Stasi alles wusste.“

Nach der Wende hat Wolfgang Nowak seine Akte bei der Gauck-Behörde angefordert. Bis heute hat er keine Antwort erhalten. Er glaubt, dass seine Akte dick ist und voll mit Berichten über ihn. Er hat nicht mit der Stasi kooperiert, er ist nicht in die Partei eingetreten, auch wenn sie gedrängt haben. Und überhaupt haben sie ihn nicht immer gut behandelt im Osten. Zum Beispiel hat er weniger Geld bekommen als die anderen. Weil er kein Ingenieurstudium hatte. Er durfte ihnen ohne Studium ein Atomkraftwerk bauen, aber bezahlt haben sie ihn wie einen Dienstboten. Irgendwann zu dieser Zeit muss es gewesen sein, als für Nowak das Leben aufhörte und die Arbeit anfing.

Auch das zweite Kernkraftwerk der DDR hat er konstruiert: das Werk in der Lubminer Heide bei Greifswald. Für jeden Meter Rohrleitung hat er die Pläne gezeichnet. Es hat lange gedauert. Die 80er-Jahre begannen, die Arbeit am Reißbrett blieb gleich. „Hiermit kündige ich mein Arbeitsrechtsverhältnis beim VEB Kraftwerksanlagenbau.“ Dieser schlichte Satz war sein Abschied. Wolfgang Nowak hat ihn mit Kugelschreiber auf einen karierten Zettel geschrieben und bei der Betriebsleitung eingereicht.

Es kam einiges zusammen. Die DDR hatte keine Devisen mehr, die Gasimporte aus der Sowjetunion wurden gestoppt. Sie mussten wieder auf die alten Rohstoffe zurückgreifen. Auf Öl und auf Braunkohle. Der neue Arbeitsplatz, den Wolfgang Nowak im Schichtpressstoffwerk Bernau bekam, hat mit dieser Umstellung zu tun. Er hat der Fabrik ein Heizkraftwerk gebaut.

Und damit ist wirklich ein gedanklicher Salto von einem Menschen verlangt worden: Einer, der dem Staat Kernkraftwerke plant, damit die Zukunft hell und sauber wird, so einer muss zurück zum alten Schmutz. Wolfgang Nowak ist zu seiner neuen Arbeitsstelle gelaufen, mit der Aktentasche in der Hand, und hat diese mentale Drehung vollzogen. „Für mich war das nicht so ein Problem“, sagt Nowak, „aus der Kernenergie wollte ich sowieso raus.“

Er hat die Umweltprobleme gesehen, die in der Atomkraft stecken, die Risiken. Schon bevor der Reaktorunfall in Tschernobyl passiert ist. Es wird auch die eigene Angst gewesen sein. Wolfgang Nowak war immer ganz dicht am Reaktor, er ist in die Verschalung gekrochen und hat die Rohrleitungen kontrolliert. Die Sicherheitsstandards entsprachen nicht denen im Westen, das wissen sie jetzt. Einmal im Monat wurde die Belegschaft in Rheinsberg vom Betriebsarzt untersucht. Die Befunde wurden zum Institut für Strahlenschutz geschickt. Die Ergebnisse hat keiner von ihnen erfahren.

„Ja, selbstverständlich hatten wir Angst“, ruft Nowak. Er ruckelt auf der Couch herum. Er ist sich nicht sicher, ob er jetzt zu viel gesagt hat. Er sagt noch mehr. Er wisse von ehemaligen Kolleginnen von seiner Frau. „Die waren im selben Alter und die sind schon tot.“ Seine Frau ist 58 jetzt. Er sagt: „Es soll Fälle gegeben haben.“ Mehr sagt er nicht. Er ist jetzt raus der Sache. Schon lange.

Nach der Wende hat er für ein Ingenieurbüro aus Bielefeld gearbeitet. Jetzt ist er in Rente. Alle drei Monate am Mittwoch treffen sie sich in einer Gaststätte, die Kollegen vom Kernkraftwerk. Sie reden über die alten Zeiten, über die Frauen, die Hechte, die Klarinette. Einmal im Jahr machen sie ihren Besuch. Sie fahren zum Werk, laufen durch die kalten Hallen, an den gelben Containern vorbei.

Beim letzten Mal sind Nowak und die anderen nach der Führung noch geblieben. Eine Schriftstellerin aus Berlin hatte sie zu einer Lesung eingeladen. Sie hat ein Buch geschrieben über das Atomkraftwerk. Nicht immer kommt das Werk gut dabei weg. So passiert es, dass sie an einem trüben Nachmittag in einem Raum an der Werkspforte sitzen und der Schriftstellerin zuhören. Einige alte Kraftwerker stehen hinterher auf und schimpfen. Sie wollen ihre Geschichte retten. Wolfgang Nowak bleibt sitzen. „Naja, ist ganz gut geschrieben“, brummt er. Er hat den Abstand ja jetzt. Sie werden alle älter, nichts bleibt.

Nach der Wende wurde die Demontage des Werks beschlossen. Die Zeit der ostdeutschen Atomkraft ist abgelaufen. Auf dem Gelände soll nach 2009 ein Naturschutzgebiet entstehen. Der Chef der alten Brigade ist an Demenz erkrankt. Der Sohn von Wolfgang Nowak arbeitet jetzt als Installateur. „Er ist in der Rohrleitungsbranche geblieben“, sagt Nowak. Er hebt die Schultern, lässt sie fallen. Vielleicht ist das eine Kontinuität, die reicht.