Polen: Nizza oder der Tod!

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Der EU-Gipfel endet in jedem Fall mit einem Fiasko. Diesen Eindruck müssen polnische Zeitungsleser haben. Mit Schlagzeilen wie „In Brüssel geht es um Polens Sein oder Nichtsein“, „Es gibt nichts zu diskutieren“, „Wir müssen härter sein als sie!“ ist eine nationale Verteidigungshaltung aufgebaut worden, die jeden Kompromiss in Brüssel als ein Versagen polnischer Politiker erscheinen lassen muss.

Eine „Degradierung Polens“ durch Deutschland und Frankreich werde Polen nicht hinnehmen, erläutert Lech Kaczynski, der populäre Oberbürgermeister Warschaus, im Boulevardblatt FAKT. „Wir können uns doch nicht mit dem Status eines Landes einverstanden erklären, das in der EU ein komplettes Nichts wäre. Jeder, der auch nur darüber diskutiert, macht sich des Landesverrats schuldig.“ Tatsächlich schließen weder Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz noch Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski ein Veto gegen die EU-Verfassung in Brüssel aus.

Es geht um die Macht: Wer wird in der erweiterten EU am meisten zu sagen haben? Die wichtigsten Entscheidungen werden im Europäischen Rat getroffen. Nach dem 2000 auf dem Gipfel in Nizza vereinbarten System, das bis zur Ratifizierung der EU-Verfassung gelten wird, werden die vier größten Staaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien mit je 29 Stimmen im Europäischen Rat vertreten sein. Die mit jeweils knapp 40 Millionen Einwohnern mittelgroßen Staaten Spanien und Polen werden mit je 27 Stimmen abstimmen. Malta, der kleinste Staat, mit 3 Stimmen.

Während das Ergebnis von Nizza in Polen als großer nationaler Erfolg gefeiert wurde, betrachten es insbesondere die Altmitglieder der EU als ungerecht, wenig effektiv und völlig unverständlich für EU-Bürger. Denn eine „Ja-Entscheidung“ wurde in Nizza an drei Bedingungen geknüpft. Für eine qualifizierte Mehrheit sind demnach 255 der insgesamt 345 Stimmen nötig, also 73,4 Prozent. Sie müssen zudem zwei Drittel aller Staaten repräsentieren, also mindestens 17 der 25 Staaten und darüber hinaus auch noch 62 Prozent der Gesamtbevölkerung aller Staaten. Für ein „Nein-Votum“ hingegen sind lediglich 91 Stimmen im Europäischen Rat nötig. Was das bedeutet, versuchte der französische EU-Parlamentarier Jean-Louis Bourlanges in Polen klarzumachen: „74 Prozent für ein Ja! Das wird die EU lähmen.“

Da es ohnehin für jede Entscheidung in der EU wichtiger ist, gleichgesinnte Koalitionspartner zu finden, denn nur auf die eigene Stärke zu setzen, wäre der Verfassungsentwurf des Konvents zumindest theoretisch auch für Polen tragbar gewesen. Das neue Abstimmungssystem soll einerseits die Staaten (eine Stimme pro Staat), andererseits aber auch die Bevölkerung der EU repräsentieren (Stimmenanzahl gemäß Bevölkerungszahl jedes Staates) (siehe auch Grafikkasten Seite 5).

Doch in Polen versuchte die liberale Opposition die ohnehin immer unpopuläreren Postkommunisten unter Ministerpräsident Leszek Miller in die Rolle der Landesverräter zu drängen. Mit dem von ihnen geprägten Schlagwort „Nizza oder der Tod“ wurde die Regierung tatsächlich in eine Sackgasse getrieben, aus der sie keinen Ausweg mehr zu finden scheint.