Kutschma spielt auf Zeit

Das Kalkül des Präsidenten ist offenkundig: Neuwahlen brächten ihm drei weitere Monate im Amt und damit Zeit, einen neuen Kandidaten aufzubauen

VON BARBARA OERTEL

Zumindest bei einem stiegen in Kiew gestern die Temperaturen: Premierminister Wiktor Janukowitsch habe Fieber, arbeite aber wie geplant weiter, ließ sich der ukrainische scheidende Staatspräsident Leonid Kutschma gleich mehrfach vernehmen. Wie lange noch, ist fraglich. Gestern votierte das Parlament mit den Stimmen von 229 Abgeordneten für die Absetzung der Regierung Janukowitsch. Zwar wurde die Abstimmung auf Initiative einiger Volksvertreter geheim durchgeführt. Dennoch glauben Experten zu wissen, dass rund 30 Deputierte aus dem Janukowitsch-Lager die Seite gewechselt haben. „Wir haben derzeit in der Ukraine zwei Schiffe mit zwei Mannschaften. Die Ratten schwimmen von einem zum anderen“, kommentierte Nestor Schufritsch, Abgeordneter der Partei der Vereinigten Sozialdemokraten, die Abstimmung.

Kurz nach Bekanntwerden der Nachricht machten bereits die ersten Szenarien die Runde. Juri Kostenko, stellvertretender Fraktionsvorsitzer von „Nascha Ukraina“, der Partei des Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko, sprach von einer Regierung des nationalen Vertrauens, die bis zu den nächsten Parlamentswahlen 2006 im Amt bleiben soll. Als Premierminister brachte er Parlamentspräsident Wolodimir Liwin ins Gespräch. Demgegenüber sprachen sich neun Politologen in einer Erklärung für eine Wiederholung der Stichwahl am 19. Dezember und die Bildung einer Koalitionsregierung aus. Deren Premier sollte jedoch nur bis zu Amtseinführung des neuen Staatschefs amtieren.

Doch vor einer neuen Regierung, unter wessen Ägide auch immer, ist noch Präsident Kutschma. Und der spielt auf Zeit. Gestern sprach er sich erneut für Neuwahlen aus und begründete dies damit, dass eine Wiederholung der Stichwahl verfassungswidrig sei. Das Votum des Parlaments kommentierte er als „Antwort auf eine Verschärfung der politischen Situation in der Ukraine“ und betonte, dass er nur im Rahmen der Verfassung handeln werde. Das ließ zunächst die Frage offen, ob er Janukowitsch wirklich feuert. Stattdessen verwies er auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, das sich gestern den dritten Tag mit der Prüfung von Wahlfälschungen befasste.

Das Kalkül, das hinter Kutschmas plötzlicher Metamorphose zum Verfassungspatrioten steht, ist so einfach wie durchsichtig: Neuwahlen würden ihm mindestens drei weitere Monate im Amt bescheren. In dieser Zeit würden – da Janukowitsch als politisch erledigt gelten kann – neue aussichtsreiche Bewerber gegen Juschtschenko in Stellung gebracht werden können. Zudem ist fraglich, wie lange die Opposition ihren massiven Druck auf der Straße – bei Schnee, Eis und schwindenden Ressourcen – noch aufrechterhalten kann.

Nach Ansicht des Politologen Olexander Mosijuk vom Kiewer Pilip-Orlik-Institut hat Kutschma kaum noch Spielraum. „Er muss Janukowitsch entlassen, er hat gar keine andere Wahl“, sagt Mosijuk. Das Votum des Parlaments ist für ihn nur ein weiteres Indiz für den Niedergang des Kutschma-Regimes, jedoch gleichzeitig ein politischer Sieg für die Opposition. „Das ist ein weiterer Schritt in Richtung Gerechtigkeit und wird die Protestbewegung stärken“, sagt Mosijuk.

Die Bilder aus Kiew geben ihm Recht. Auch gestern bevölkerten wieder hunderttausende das Zentrum der Hauptstadt. Der Durchhaltewillen scheint ungebrochen zu sein. Dabei geht es den Menschen längst um viel mehr als darum, dass Wiktor Juschtschenko noch in den Präsidentenpalast einzieht. „Nicht Juschtschenko braucht diesen Sieg, sondern wir brauchen diesen Sieg“, ist ein Satz, der dieser Tage auf den Straßen Kiews häufig zu hören ist.

Während auf den Straßen weiter für die Demokratie gefroren wurde, versuchten gestern auch wieder internationale Vermittler in das Geschehen einzugreifen. Am Morgen trafen die Präsidenten Polens und Litauens, Aleksander Kwaśniewski und Waldas Adamkus, in Kiew ein. Nach der ersten Verhandlungsrunde wirkte der litauische Staatschef jedoch etwas ernüchtert. „Heute Morgen war ich noch sehr optimistisch. Jetzt würde ich sagen: 50 zu 50“, erklärte Adamkus vor Journalisten. Auf die Frage, wie die beste Lösung für die Ukraine aussehe, antwortete er: „Das weiß im Moment niemand.“

Zumindest einen positiven Effekt haben die Vermittlungsbemühungen laut Olexander Mosijuk bisher gehabt. „Sie haben verhindert, dass Kutschma gewaltsam gegen die Demonstranten vorgegangen ist. Wenn das passiert, gerät die Lage außer Kontrolle“, sagte Mosijuk. Doch nicht alle begrüßen das westliche Engagement uneingeschränkt. „Die Vermittlung zeigt, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, das Problem allein zu lösen“, sagt die Fernsehjournalistin Iwanna Kobernik. Und: „Ich befürchte, dass die Rechnung wieder ohne uns gemacht wird.“