Chemie der Macht, Physik der Ohnmacht

Immer öfter wird Maggie Thatcher als Vorbild für die CDU-Vorsitzende Angela Merkel propagiert. Zu Unrecht, wie Dominik Geppert überzeugend darlegt. Die marktliberale Radikalreformerin aus England taugt nicht als Orientierung für die aktuellen Probleme. Und: Angela Merkel liebt den Konsens zu sehr

Immer wenn Angela Merkel für Geschlossenheit in den Reihen der CDU sorgt und – wie jüngst auf dem Parteitag in Leipzig – die Union programmatisch neu ausrichtet, stellen Kommentatoren die Frage: Kann sie das Land aus der Krise führen, wie sie immerhin ihre Partei auf neuen Kurs brachte? Kann sie die Mehrheit der Bevölkerung von der Notwendigkeit ihrer wirtschaftsliberalen Reformen überzeugen? Letztlich: Hat sie das Zeug zu einer neuen Maggie Thatcher, wenn sie erst mal zur Bundeskanzlerin gewählt ist?

Das aktuelle Buch zum Thema ist gerade erschienen. Dominik Gepperts Studie „Maggie Thatchers Rosskur. Ein Rezept für Deutschland?“ fragt danach, ob der kämpferische Aufbruch der Tories unter der Führung von Thatcher ab 1975 und ihre rabiate Politik als Premierministerin ab 1979 als Vorbild für Angela Merkel taugen. Geppert macht eine Reihe von Gemeinsamkeiten aus. Wie Deutschland heute hatte Großbritannien in den Siebzigerjahren inmitten einer lang anhaltenden Wachstumsschwäche die Grenzen der Finanzierbarkeit seines Wohlfahrtsmodells erreicht. Verschuldung und Arbeitslosigkeit stiegen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit sank, in der teuren Sozialpolitik unterschieden sich die Positionen von Tories und Labour-Partei kaum. Und ein Ausweg aus der Krise war nicht in Sicht: Ein wirksames Konzept gegen die schleichende Depression, die „englische Krankheit“, wie sie damals hieß, fehlte.

Das änderte sich, als Margaret Thatcher den Vorsitz der krisengeschüttelten Oppositionspartei übernahm. Sogleich begann sie, sich als rücksichtslose Vorreiterin marktradikaler Reformideen zu profilieren, die sie in der Regierungsverantwortung umsetzte. Dazu gehörten der schnelle Ab- und Umbau des Sozialstaats und des Arbeitsrechts, eine umfangreiche Privatisierung und Liberalisierung in der Wirtschaft, aber auch die Zerschlagung der einflussreichen und streikfreudigen Gewerkschaften. Schon als Chefin der Tories kämpferisch gesinnt, erhielt Thatcher als Premierministerin zu Recht den Spitznamen „Eiserne Lady“. Und sie führte das Land aus der Krise: Die Wirtschaft begann zu boomen, der Haushalt wurde konsolidiert, und die Arbeitslosigkeit fiel hinter die Werte auf dem Kontinent zurück.

Geppert streift die Mängel und Ungerechtigkeiten des Thatcherismus nur – er will in erster Linie die britische und die deutsche Krise sowie die beiden konservativen Parteichefinnen vergleichen. Nachdem er aber die Gemeinsamkeiten herausgestellt hat, führt er selbst auf, wie bedeutend die Unterschiede zwischen den beiden Systemen und Personen sind.

Denn Thatcher räumte mit vier Säulen des britischen Regierungssystems auf: mit dem Keynesianismus (der Arbeitslosigkeit mit Staatsausgaben und ergo Inflation bekämpfte), der mixed economy (der Staat war Eigentümer vieler Schlüsselunternehmen), der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften (die vielfach in die politische Arbeit eingebunden war) und dem Sozialstaat, der in Großbritannien nicht aus Beiträgen, sondern aus Steuern finanziert wurde. Nichts davon ist auch nur annähernd auf das Deutschland der Gegenwart zu übertragen. Außerdem haben die britischen Reformen ihre Durchschlagskraft auch dem Zentralstaatsmodell zu verdanken gehabt, das keinen Bundesrat wie im föderalen Deutschland kennt. Ferner ist die britische Gesellschaft ohnehin staatsferner als etwa die französische oder die deutsche. Und zu guter Letzt ist marktwirtschaftliches Denken längst auch bei der SPD und den Grünen eingekehrt – ein ordentlicher Modernisierungsvorsprung ist da für Merkel nicht herauszuholen.

Tatsächlich kann die beim CDU-Parteitag in Leipzig beschlossene Kopfpauschale in der Krankenversicherung als rechtsliberal gelten. Aber thatcheristisch würde Merkel erst handeln, wenn sie die gesamte soziale Marktwirtschaft für gescheitert erklären und einen vollständigen wirtschaftspolitischen Systemwechsel durchfechten würde. Doch die Deutsche setzt auf Konsens und strahlt sicher nicht die Überzeugung aus, das Schicksal der Nation zu verkörpern – anders als vor 30 Jahren die ungrüblerische und konfliktorientierte Britin, der Kompromisse ein Gräuel waren. Thatcher hat einst Chemie studiert und gab einmal an, dass dies ihr half, „aus Tatsachen Schlussfolgerungen zu ziehen“. Die promovierte Physikerin Merkel hingegen antwortete auf eine ähnliche Frage, sie habe in ihrem Studium gelernt, „mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen“.

So beantwortet Geppert seine Titelfrage selbst: Nein, Maggie Thatchers Rosskur ist kein Rezept für Deutschland. Die politischen Probleme waren andere, die Zeit war eine andere, die Person ist eine andere. Dass die hiesige Krise durch eine selbstbewusste Führungsgestalt überwunden werden müsse, hält der Autor für eine ausgemachte Sache. Ganz mag er Merkel nicht abschreiben, auch wenn Maggie Thatcher als Maßstab für sie nicht taugt.

DIETMAR BARTZ

Dominik Geppert: „Maggie Thatchers Rosskur. Ein Rezept für Deutschland?“ Siedler Verlag, Berlin 2003, 128 Seiten, 16 Euro