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: Berlin nach der Verbannung des Sündenbocks

Vor dem heutigen Heimspiel gegen 1860 München hofft man bei Hertha BSC, dass sich mit Trainer Huub Stevens auch das Abstiegsgespenst verflüchtigt hat

Eine lieb gewordene Zuflucht ist den Zuschauern im Berliner Olympiastadion genommen, wenn Hertha BSC heute gegen 1860 München an die traurigen Leistungen der letzten Heimspiele anknüpfen sollte: Sie können nicht mal mehr „Stevens raus!“ rufen. Der Niederländer ist Geschichte in Berlin, wo er, wie es nun allenthalben heißt, niemals hingepasst hatte. Das ist natürlich kompletter Unsinn. Ein Trainer, der gewinnt, passt überall hin, einer der verliert, nirgends. Das dürfte bald auch der neue Bankdrücker Andreas Thom spüren, der heute sein Heimdebüt gibt und dem im Moment noch die Gunst der Medien und der Fans entgegenschlägt.

Während das muntere hauptstädtische Trainerraten in vollem Gange ist und ein obskurer Name nach dem anderen in die Diskussion geworfen wird, ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass der Job auch nach der Winterpause am armen Thom hängen bleibt – allein schon aus Mangel an Alternativen. Welcher Trainer hat schon Lust, sich seine Karriere zu versauen, indem er einen hoffnungslosen Tabellenvorletzten übernimmt? Schließlich war Huub Stevens bei Hertha nicht deshalb entlassen worden, weil man dies für eine zukunftsträchtige und sinnvolle Maßnahme hielt, sondern weil den Verantwortlichen, allen voran Manager Dieter Hoeneß, sonst nichts mehr einfiel.

Echte Fehler sind Stevens kaum nachzuweisen, trotzdem lief und läuft es einfach nicht in der Mannschaft. Warum, das ist nicht nur für Hoeneß und Co. nach wie vor ein Mysterium. Meist werden die Angreifer, allen voran Fredi Bobic, gescholten, doch das Problem liegt eher in der Defensive, und das schon seit vielen Jahren. Vor geraumer Zeit, Jürgen Röber war noch Trainer, kassierte Hertha einmal eine Heimniederlage gegen Cottbus. Das entscheidende Tor der Gäste kommentierte Röber später so: „Der Pass in die Tiefe hätte verhindert werden müssen, die Flanke hätte verhindert werden müssen, der Stürmer hätte am Kopfball gehindert werden müssen.“ Jedesmal kam ein Herthaner ein Sekündchen zu spät – getreues Spiegelbild der heutigen Situation.

Da inzwischen auch noch die Verunsicherung durch den Abstiegskampf hinzukommt, ist der Absturz eine sehr reale Gefahr geworden. Das wäre ein Katastrophe für die Berliner, die bald über ein prächtiges WM-Stadion verfügen und allerlei wirtschaftliche Projekte betreiben, wie sie sich für einen Spitzenklub ziemen. Schließlich war Hertha vor Jahren mit einem Langzeitplan angetreten, die „dritte Kraft“ im deutschen Fußball zu werden – damals neben Bayern und Dortmund – und sich eine treue Fangemeinde wie in München, auf Schalke oder beim BVB heranzuziehen. Doch seit dem Einzug in die Champions League 1999 – laut Plan viel zu früh – stagnierte die Entwicklung, bevor sie jetzt eskalierte. Mit dem – offenkundig extrem schlecht beratenen – Sebastian Deisler wurde den Herthanern das Herzstück ihrer Zukunftsplanung abspenstig gemacht, und so sehr Hoeneß und seine Trainer am Team bastelten, außer Marcelinho kam niemand, der einen echten Qualitätsschub bewirkte.

Das ist symptomatisch für die Bundesliga, die wie keine andere europäische Topliga durch krasse Abstürze ihrer Spitzenteams charakterisiert wird. Erst Schalke, dann Dortmund, dann Leverkusen, nun Hertha. Auch in Spanien, Italien oder England haben die teuren Teams zwar gelegentlich schlechtere Jahre, wie zuletzt der FC Barcelona, Abstieg ist jedoch nie ein Thema. Auch hier manifestiert sich die relative Schwäche des deutschen Fußballs. Wer in der Bundesliga als großer Star gilt, ist international oft höchstens zweitklassig, die individuelle Stärke der einzelnen Spieler reicht nicht, um mangelnde kollektive Stärke zu übertünchen. Es kann sich, erst recht nach der Kirch-Pleite, außer Bayern kein Team eine so große Anzahl von Spitzenspielern leisten, dass es vor einem Absturz gefeit wäre. Ein paar Verletzungen, ein paar unglückliche Niederlagen, ein bisschen Knirschen im Mannschaftsgefüge, schon krebst selbst ein Vizemeister im Tabellenkeller herum.

Für die Spannung in der Liga ist das gar nicht schlecht. Bei Hertha BSC hat man für solche Feinheiten momentan allerdings wenig Sinn. MATTI LIESKE