„Die Studentenproteste werden militanter“, sagt Herr Bultmann

Die Studentenbewegung ist nicht vom Himmel gefallen – selten gab es so wenig Geld für so viele Studenten

taz: Herr Bultmann, die Studenten regen sich seit Wochen über „Bildungsklau“ und geplante Studiengebühren auf. Heute wollen sie in Berlin, Leipzig, und Frankfurt am Main zu ihrer ersten bundesweiten Protestdemo gehen. Wird das ein Erfolg?

Torsten Bultmann: Das kommt drauf an. Wenn der „freie zusammenschluss der studierendenschaften“, der zusammen mit Gewerkschaften und Initiativen zu der Demonstration aufruft, den Impuls der streikenden Basis richtig eingeschätzt hat, dann müsste die Zahl von 40.000 TeilnehmerInnen zusammenkommen. Mindestens – sonst könnte es als bundesweite Demo auch gar nicht durchgehen.

Bislang gibt es mehr oder weniger lustige Aktionen vor Ort. Studenten gehen mit der Bildung baden oder sie reißen sich das letzte Hemd runter. Geht vielleicht auch der Streik in seiner eigenen heiteren Kreativität baden?

Es finden ja nicht bloß die einschlägigen Happenings und die Pappsarg-Aktionen statt, wie man sie seit dreißig Jahren sieht. Viele Studenten scheinen bereit zu sein, ihre Streikaktionen bis zu einem erfolgreichen Ende durchzuziehen. Und es ist eine zunehmende Militanz erkennbar.

Wo sehen Sie Militanz?

Während des 97er Everybodies-Darling-Streik hat es längst nicht so viele Besetzungsaktionen gegeben, wie es aktuell der Fall ist. Damals haben die Politiker die Studenten parteiübergreifend gehätschelt und gepäppelt – inklusive Kohl. Jetzt spüren die Streiker wesentlich schneller den Polizeiknüppel, in Göttingen zum Beispiel.

Gibt es eine Chance, dass sich die Studierenden aus sich selbst heraus politisieren und so etwas wie einen Gegenentwurf zur Gesellschaft und der herrschenden Bildungspolitik formulieren?

Ich hüte mich vor klassifizierenden Bewertungen von oben herab. Mein Eindruck aus vielen Streikveranstaltungen und Podiumsdiskussionen ist, dass die Bereitschaft ausgeprägt ist, Alternativen zur Bildungsfinanzierung und zur gegenwärtigen Sozialpolitik zu diskutieren. „Wir fordern mehr Profs und mehr Bücher“ – das war überwiegend die Parole von 1997. Heute geht das viel weiter.

Worin besteht der Zusammenhang zwischen der sozialen Frage und Bildung?

Wir haben eine recht einmalige historische Konstellation. Die Zahl der Studierenden ist zum ersten Mal über zwei Millionen angestiegen. Gleichzeitig rauben einzelne Bundesländer mit Rückbauprogrammen den Hochschulen bis zu zehn Prozent der Studienplätze und Dozentenstellen. Das alles ist in den Kontext der Agenda 2010 eingebettet, des größten Sozialabbaus der Nachkriegsgeschichte. Es ist möglicherweise nur eine Frage der Zeit, dass die Studenten daraus radikale Schlussfolgerungen ziehen.

Ist denn der gängige Slogan der Studenten, dass die Unis „kaputtgespart werden“, überhaupt berechtigt?

Das klingt natürlich stereotyp, „kaputtsparen“. Das haben wir schon vor fünfzehn und vor zehn Jahren gehört. Diesmal aber geht der Sparkurs, der den Hochschulen verordnet wird, an die Substanz. Es werden Fachbereiche, ja sogar ganze Hochschulen dichtgemacht, wie etwa in Hamburg die Hochschule für Wirtschaft und Politik. Den Studenten werden die Studienplätze unter dem Hintern weggezogen – begleitet von einer grellen und marketingmäßigen Reformrhetorik, hinter der keine politische Substanz steckt.

Was meinen Sie damit?

Den so genannten Bologna-Prozess zum Beispiel. Unter diesem Stichwort wird den Studenten ein freies Studium quer durch Europa vorgegaukelt. Aber die Realität sind hektisch eilig umgestrikte Bachelorstudiengänge, die am Markt nichts wert sind – und hohe Hürden vor dem Masterstudium. Oder nehmen Sie Niedersachsen: Dort heißen die Schließung von Fachhochschulen und gravierende Kürzungen „Hochschuloptimierungskonzept“. Das regt auch ganz brave Studenten auf. Die glauben den Politikern gar nichts mehr.

Welche Perspektive hat der Streik? Was soll denn geschehen – angesichts der völlig ausgelaugten Haushalte der Länder?

Wenn die Politik Bildung so wichtig nimmt, wie sie immer sagt, gibt es selbstverständlich Perspektiven. Der Spielraum für eine andere Bildungsfinanzierung steckt im gesamten Sozialprodukt – und wird nicht von akuten Schwierigkeiten der Finanzminister diktiert. Das erste Ergebnis des Streiks gibt es schon: eine neue gesellschaftliche Debatte, was Bildung wirklich wert sein muss.

Bildung als Ganzes oder die Hochschulen?

Es ist unbestritten, dass die vorschulische Erziehung und die Grundschule unterfinanziert sind – und das, obwohl sich dort entscheidet, ob der Start in die Bildungsbiografie überhaupt gelingt. Das Gleiche gilt für die Hochschulen: Seit Ende der Siebziger gibt es dort viel zu wenig Studienplätze, obwohl die hohe Zahl von Studenten doch politisch gewollt wurde. In der Weiterbildung, die als „lebenslanges Lernen“ in aller Munde ist, erleben wir gerade mit den neuen Fortbildungsregeln des Hartz-Konzepts ein völliges Fiasko. In einigen Regionen ist die berufliche Weiterbildung infolgedessen praktisch zusammengebrochen. Der ganze Bildungssektor befindet sich in einer negativen Abwärtsspirale.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER