Miserabel vorbereitet, keine Alternativen

Die Berliner Kampagne gegen Hartz IV bläst nach heftiger Diskussion alle kleineren Aktionen bis zum Frühjahr ab. Bilanz der bisherigen Proteste fällt ernüchternd aus. Jene seien inzwischen „an der Schwelle zur Lächerlichkeit“

„80 Leute, die im Aktionismus gemeinsam 60 Hartz-IV-Anträge einreichen, sind keine Protestbewegung mehr“, sagt Peter Grottian, schillernde Führungsfigur der Berliner Sozialproteste. „Wir sollten alle Kleinaktionen abbrechen.“ Der FU-Professor hat keine Lust mehr auf halbherzige Protestversuche. Rund 50 Aktivisten und Betroffene haben sich an diesem Mittwochabend im Mehringhof getroffen, um über Bilanz und Ausblick der Proteste gegen Hartz IV zu diskutieren.

Grottians Frust richtet sich auf die für kommenden Montag geplante Aktion. Unter dem Motto „Mit der Rute zur Agentur“ wollen eine Hand voll Anti-Hartz-IV-Aktivisten ihre Anträge beim Arbeitsamt Friedrichshain-Kreuzberg einreichen. „Das ist nahe dran an der Lächerlichkeitsschwelle“, sagt Grottian, und bekommt dafür von einer kleinen Gruppe Beifall.

Zuvor ist die Bilanz der bisherigen Aktionen nüchtern ausgefallen: „Wir haben im Sommer große Fehler gemacht. Wir waren miserabel vorbereitet und konnten keine Alternativen zu Hartz IV anbieten.“ Grottian geht mit den Montagsdemos und anderen Kampagnen der vergangenen Monate hart ins Gericht. Ginge es nach ihm, würde jetzt erst mal Schluss sein mit den Protesten. „Wir sollten uns jetzt sammeln, um im Frühjahr gestärkt nachlegen zu können.“

Nicht alle im Raum finden diesen Ratschlag toll. „Wir müssen konstant Druck ausüben und dürfen jetzt nicht nachlassen“, tönt es aus dem Hintergrund. Für Grottian ist allerdings klar, dass jetzt der große Leerlauf droht. „Am Ende kriegen wir im Frühjahr überhaupt nichts mehr auf die Reihe.“

Die Kluft zwischen Aktionisten und Betroffenen ist auch auf dieser Veranstaltung groß. Viele im Raum würden gerne irgendetwas unternehmen, können sich aber nicht so richtig mit den Worten von Grottian und seinen Kollegen identifizieren. „Wir haben die ganze Zeit Bewegung gespielt und waren es nie“, sagt Grottian. Es wäre nie wirklich gelungen, die Menschen zu erreichen.

Die Luft ist raus aus der Berliner Kampagne gegen Hartz IV. Die Diskussion im Mehringhof ist ein kleines Spiegelbild der großen Montagsdemonstrationen des vergangenen Sommers. „Zu der Peinlichkeit, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, kommt noch die Peinlichkeit der Inhalte, die auf den Podien diskutiert werden“, sagt eine zierliche Frau in der letzten Reihe. „Ich kann mich damit auf jeden Fall nicht identifizieren.“ Schon im Kleinen haben es die Aktionisten schwer, ihr Gefolge auf einen Kurs einzuschwören.

Einer dieser Aktionisten, die mit Grottian auf dem Podium sitzen, ist Tom Rudek: „Der Leidensdruck ist noch nicht hoch genug. Ein Großteil der Berliner ist einfach zu lethargisch“, sagt er. Wenn die Leute erst mit voller Wucht von Hartz IV getroffen werden, würden sie auch wieder auf die Straße gehen. So richtig zustimmen will ihm da aber keiner. Die Anwesenden haben offenbar schon das Gefühl, mit voller Wucht von Hartz IV getroffen zu werden. An so eine Zukunft der Kampagne mag da keiner gerne denken.

Es überwiegt die Ratlosigkeit. Woran sind die Sommerproteste gescheitert? Kann man Hartz IV noch stoppen? Wie kriegt man die Leute auf die Straße? Auf die Fragen scheint es so viele Antworten wie Menschen in diesem Raum zu geben. Engagiert sind sie alle. Über einen gemeinsamen Weg herrscht jedoch größtmögliche Uneinigkeit. Am Ende setzt sich Grottian durch. Alle Kleinaktionen sollen bis zum Frühjahr gestoppt werden. Aber man will an den Aktionen „Agenturschluss“ Anfang Januar teilnehmen. Und dann gibt es da ja noch den Event „Mit der Rute zur Agentur“ am kommenden Montag: Der ist schon beschlossen.

PHILIPP DUDEK