Weisheit und Jugend – ein Schlagloch

Oskar Negt, behauptete ich neulich, habe nach der legendären Schlacht am Tegeler Weg nachgewiesen – doch, doch, punktuell und momentan und als utopisches Einsprengsel trat hier die Revolution in Erscheinung, stellten wir die Machtfrage. „Auf keinen Fall!“, erwiderte am Kneipentisch ein trauriger älterer Herr ohne Beschäftigung, „das muss Christian Semler gewesen sein. Negt träumte niemals vom Bürgerkrieg!“

Wie dem auch sei. Viel ward seitdem über den rauschhaften Unfug geschrieben, dem wir da anhingen, mehr-minder innig. Die meisten kamen stillschweigend wieder heraus. Christian Semler aber geriet erst einmal tiefer hinein. Die antiautoritäre Revolte wollte sich sozialistisch, gar kommunistisch vollenden, neben der RAF entstanden die K-Gruppen – vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt –, der Mickymaus-Stalinismus oder -Maoismus, der manchem Universitätsseminar, dem ich angehörte, erpresserisch die Solidarität mit dem befreiten Kampuchea der Roten Khmer nahe legte, zum Beispiel … Wie wir wissen, verbrachte Semler Jahre seines Lebens mit diesem Rollenspiel als Berufsrevolutionär, Jahre, die der ähnlich engagierte Schriftsteller Jochen Schimmang als vergeudete Zeit zu beklagen nie aufgehört hat.

Es muss wirklich schwierig sein, da heil herauszukommen. Christian Semler aber ist es auf staunenswerte Weise gelungen. Er konnte die Korrektur seiner politischen Irrtümer als einen Lernprozess organisieren – um die schönen, alten Worte zu verwenden –, an dem die Leser seiner Beiträge in der taz noch heute mit Gewinn teilhaben. Denn ein solcher Lernprozess endet ja nicht einfach mit dem Abschwören, Punkt, und dann ist man frei für neue Orientierungen. Man muss die alten Glaubensmächte transformieren, wenn man nicht ohne jede Schubkraft weiterleben will.

Schwierig zu beschreiben, wie so etwas gelingt. Die primitivste Lösung findet der Renegat, der seine ehemaligen Überzeugungen mit derselben Leidenschaft attackiert, mit der er sie früher vertrat. Ein peinliches Schauspiel. Weil sich der Renegat offensichtlich das erspart, was die Lage von ihm verlangt: Verzicht. Verzicht auf das (jugendliche) Feuer, das den Revolutionär einst beseelte, ein Verzicht, der ohne Traurigkeit nicht zu denken ist. Das ist es, was man dem Renegaten übel nimmt, dass er lustig weitertobt in seiner Rechthaberei, bloß unter anderem Vorzeichen.

Seit ich ihn lese, habe ich an Christian Semler die höhnische Rechthaberei des Renegaten nie beobachtet. Mit bemerkenswert ruhiger Stimme kann er über das komplette Scheitern der K-Gruppen und ihre Ideen sprechen; über das erkennbare oder unerkennbare Fortleben mancher ihrer Motive – so erklärte er einmal das massenhafte Fahrradfahren unserer kritischen Mittelschichten zur unbewussten roten Chinoiserie.

Ich neige zu der Meinung, es zeichne einen Zustand politischer Normalität aus, wenn sich entsprechend engagierte Jungmenschen eine Zeit lang dem Wahnsinn ergeben, um dann zurückzukehren und ihrer Leidenschaft die Form zu verleihen, die das System der politischen Verfahren vorschreibt. In der Bundesrepublik der Sechziger musste dem Jugendradikalismus sein Feld überhaupt erst eröffnet werden, was viele Schmerzen und Verirrungen hervorbrachte, sogar Tote, aber letzten Endes gelang. An diesem konfliktuösen Normalisierungsprozess hat Christian Semler prominent teilgenommen. Und nicht nur das: Die Jahre haben ihm, wie seine feste und ruhige, aber lebendige Stimme in der taz immer wieder lehrt, etwas geschenkt, was die Antike Weisheit nannte und für das vorbildliche Gegenstück des Alters zur jugendlichen Leidenschaft hielt. MICHAEL RUTSCHKY

Michael Rutschky, 60, lebt als freier Autor in Berlin. Er kennt Christian Semler seit ewigenZeiten aus der Ferne