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Katholische Bischöfe wollen „das Soziale neu denken“. Sie geißeln ein „Dickicht von Transferleistungen“ und eine „immer komfortablere Normalität“

AUS BERLIN PHILIPP GESSLER

Nein, sagte der Trierer Bischof Reinhard Marx lachend, für das Schreiben dieses Textes habe man keine „Neoliberalen direkt aus Amerika eingeflogen“. Kardinal Karl Lehmann, Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, zeigte sich gar ein wenig pikiert: „Gründlich missverstanden“ fühle er sich von christlichen Sozialethikern, die das Papier als Abschied von der katholischen Soziallehre und als Übernahme liberaler Prinzipien verstünden. Man wolle keineswegs den Sozialstaat nach der „angelsächsischen Kultur“ gestalten!

Ein „Impulstext“ der „Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen“ der deutschen katholischen Bischöfe macht Furore: „Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“ heißt er. Nach rund anderthalb Jahren Arbeit haben ihn Marx, sein Bischofskollege Josef Homeyer aus Hildesheim und Lehmann gestern in Berlin vorgelegt – umstritten war es schon seit ein paar Wochen, als die ersten Schnipsel des 28-seitigen Papiers an die Öffentlichkeit drangen.

Dabei ist der Text, wie so viele Schreiben der Kirche, ja die Bibel selbst, ganz unterschiedlich zu lesen: Wollen die Bischöfe den Sozialstaat verteidigen? Oder wollen sie ihn vielmehr abbauen und die Sozialkürzungen legitimieren? Was stimmt, wird, wie in der Heiligen Schrift, erst im Zusammenhang einzelner Passagen deutlich – und vor dem Hintergrund einer Schrift, die die Bischöfe vor sechs Jahren zusammen mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verfassten.

Das „Sozialwort der Kirchen“, wie es damals in der politischen Diskussion genannt wurde, war zwar auch recht konträr zu lesen, ja wurde von ganz unterschiedlichen Seiten „totgelobt“, wie Lehmann seinerzeit selbstkritisch meinte. Die Grundtendenz aber war klar: Für die Solidarität zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, gegen brutalen Sozialabbau. Ja zu Reformen des Sozialstaats – aber nur, wenn die Ärmsten nicht die Lasten trügen. „Option für die Armen“ nannte man das etwas pathetisch theologisch, mit Anklängen an die vom Vatikan geächtete „Theologie der Befreiung“ übrigens.

Der jetzige „Impulstext“ erinnert an diese „Option für die Armen“ – als Zitat aus dem damaligen „Sozialwort“. Die Grundstimmung aber ist eine völlig andere: Mehr Eigenverantwortung, weniger Anspruchsdenken. Ein „undurchsichtiges Dickicht von Transferleistungen“ wird bemängelt. „Das Soziale“, heißt es an einer Stelle, werde „zu einem Anspruch, um eine immer komfortablere Normalität herzustellen“. Und wie ist dieser Satz zu verstehen: „Wurde bisher in steigendem Maße auch im Bereich mittlerer Einkommen der jeweils erreichte Lebensstandard abgesichert, so wird es zunehmend erforderlich, die Lebenslagen und -risiken enger zu definieren, für die eine Sicherung notwendig ist.“ Kein Zahnersatz mehr für Bezieher mittlerer Einkommen also?

So konkret will Lehmann das nicht verstanden wissen, schließlich gehe es um das große Ganze, betonen die Bischöfe. Der Kardinal schiebt bei der Vorstellung des Textes auch noch ein paar nette Worte über verarmte Familien nach – „skandalös“ sei das. Aber christliche Sozialethiker sehen ebenfalls das Große und Ganze des Textes, und ihr Urteil ist harsch (s. Interview): Das Papier, so erklären Karl Gabriel aus Münster, Friedhelm Hengsbach aus Frankfurt/Main und Dietmar Mieth aus Tübingen, solle offenbar helfen, „den Weg für weitere Sozialkürzungen zu bereiten“.

„Totgelobt“ jedenfalls wird der „Impulstext“ wohl nicht werden. Der Bund Katholischer Unternehmer und das ebenfalls katholische Kolpingwerk Deutschland loben gerade mal die Idee der Bischöfe, einen regelmäßigen „Sozialstaats-TÜV“ einzurichten, der die Expertisen zur wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik ergänzen solle. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der katholischen Szene normalerweise nahe stehend, mahnte im Schreiben der Oberhirten konkretere Lösungsvorschläge an: „Mit dem Verbreiten von Skepsis zur Reformunfähigkeit des politischen Systems kann es nicht getan sein“, meint der CDU-Abgeordnete Hermann Kues, der kirchlichen Worten meist mit Wohlwollen begegnet.

Der höchste Repräsentant der evangelischen Kirche, der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, würdigte das Dokument in einer ersten Reaktion immerhin als ein „neues Plädoyer für eine langfristig angelegte Reformpolitik“. Die beiden Kirchen äußerten sich sich ja stets in einer gut abgestimmten Weise. Der Bischof von Berlin-Brandenburg hatte schon vor einigen Wochen angesichts der Agenda 2010 weitere Wirtschafts- und Sozialreformen angemahnt. Die Kirchen sitzen offenbar im selben Boot.