Das Leid mit der Leitkultur

Bei der Integrationsdebatte im Bundestag bewerfen sich Regierung und Opposition mit Floskeln wie „Leitkultur“ und „Multikulti“. Eine gemeinsame Idee, wie Deutsche und Migranten zusammenleben sollen, haben die Abgeordneten nicht

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Irgendwann wird es Antje Vollmer zu laut. „Ich möchte alle Seiten bitten, die Emotionen ein wenig herunterzufahren“, mahnt die grüne Bundestagsvizepräsidentin mitten in der Debatte über Integration, Islamismus und Zuwanderung. Sie wisse ja, sagt Vollmer, dass es sich um schwierige und gefühlsbeladene Themen handele, aber die Abgeordneten sollten sich doch wenigstens gegenseitig zuhören.

Danach wird es ein wenig ruhiger, aber nur, weil jetzt Leute wie Max Stadler von der FDP ans Rednerpult treten, der „einen Beitrag zur Versachlichung leisten“ will. Völlig zu Recht wirft er Union und Rot-Grün vor, dass sie sich eine Stunde lang vor allem ideologisch besetzte Begriffe wie „Leitkultur“ und „Multikulti“ an den Kopf geschmissen und ansonsten absichtsvoll aneinander vorbeigeredet hätten. Für einen Moment kehrt Nachdenklichkeit ein. Mehr ist nicht drin. So etwas wie einen gemeinsamen Nenner zu finden, wie man das Zusammenleben in Deutschland gestalten sollte, gelingt den Abgeordneten auch an diesem Tag nicht. Dieselben Parteien, die gerade erst gemeinsam ein neues Zuwanderungsgesetz beschlossen haben, scheinen wieder Lichtjahre voneinander entfernt. Der Streit beginnt schon bei der Analyse des Ist-Zustands.

Die Union hält der Regierung vor, die Integrationsprobleme klein zu reden, Rot-Grün kontert mit dem Vorwurf, CDU/CSU dramatisierten die Lage und stellten alle Muslime unter Generalverdacht. Manchmal entsteht der Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Vier Jahre nachdem der damalige CDU-Fraktionschef Friedrich Merz die deutsche „Leitkultur“ als Leitmotiv der Union in die Integrationsdebatte warf, bringt seine Partei diesen Begriff erneut in ihrem Antrag ein, ergänzt um den Zusatz „freiheitlich-demokratisch“, ohne die Bedeutung des Wortes „Leitkultur“ näher auszuführen. Nicht nur Petra Pau von der PDS will von der Union deshalb wissen: „Was ist das? Die Weißwurst, die Bulette oder der Döner?“ Auch SPD-Chef Franz Müntefering fragt gleich zweimal: „Was meinen Sie damit?“ Wenn die Union mit der Leitkultur das Grundgesetz meine, sei das „okay“, sagt Müntefering, aber ihr gehe es wohl um etwas anderes, nämlich „Wahlkampf zu machen“. Umgekehrt unterstellt die Union Rot-Grün, immer noch „Multikulti-Illusionen“ nachzuhängen und zu wenig gegen die Entstehung von „Parallelgesellschaften“ und den Islamismus zu tun – da können die Regierungsvertreter noch so oft betonen, dass auch sie weder „Hassprediger“ noch Zwangsheiraten dulden und die multikulturelle Gesellschaft kein Ziel, sondern Realität sei. Es hilft nichts. Eine Verständigung über die Grundlagen des Miteinanders ist unmöglich.

Das Grundgesetz als kleinster gemeinsamer Nenner reicht der Union nicht aus. Ihr Fraktionsvize Wolfgang Bosbach bleibt dabei: Auch Leitkultur muss sein, und zwar eine, die von der christlich-abendländischen Kultur geprägt sei. Irgendwie jedenfalls.

Vielleicht wäre alles einfacher, wenn es mehr Abgeordnete wie Lale Akgün und Sebastian Edathy (beide SPD) gäbe. Sie führen vor, worüber die anderen reden: gelungene Integration. Und sie bringen Witz und Ironie in eine Debatte verbiesterter Taktiker. Edathy, Sohn eines Inders, sagt, er wundere sich manchmal, worüber zur Zeit so heftig gestritten werde. Das Zusammenleben funktioniere doch „ganz überwiegend friedlich“ und: „Ohne Gerald Asamoah, Kevin Kuranyi und Miroslav Klose wäre es um die Offensivkraft unserer Nationalmannschaft schlecht bestellt.“ Da gibt es ausnahmsweise keinen Zwischenruf. Der Fußball schlägt als verbindendes Element das Grundgesetz.