Kopfgeburt kaputte Familie

Das Tanz-Sprechstück „Missing“ von Bremer „steptext dance company“ und „young artists“ bleibt belanglos

Plakative Erklärungen als Palette der Beliebigkeiten

Eine Lautsprecherstimme vermisst die kleine Anna Lena. Eine Mutter (Marion Amschwand) krümmt sich in einem Meer zerknüllter Zeitungen. Robert (Robert van den Dolder) staffiert seine Tochter Paula (Paula Weiterer) mit einem Tüllkleid aus, zieht sie in ein Kabuff, um sie zu vergewaltigen. Die Mutter säuft. Das nervt Robert, aber er will sowieso nichts mehr von ihr wissen.

In kurzen Szenen skizzieren die Choreographenregisseure Marion Amschwand und Helge Letonja ihr Stück Missing, das derzeit auf Kampnagel zu sehen ist. Mit wenigen Gesten schmieden sechs Jugendliche zusammen mit der Bremer steptext dance company ein Soziogramm der Gescheiterten, das oberflächlich bleibt. Schläge, Alkohol, Haustiermord, Vergewaltigung – alles kommt vor, nichts irritiert. So wäre doch wichtig, wie es zum Desaster kommt. Die bescheidene Erklärung: Die Familienmitglieder sprechen nicht miteinander. Lisa solidarisiert sich nur einmal mit ihrer Schwester Paula, indem sie dem Vater den Tee über die Zeitung kippt.

Doch selbst dies bleibt ohne Konsequenzen und damit belanglos, während die Geschwister zu tanzen beginnen. Sexy schwingt das Quartett die Hüften, schön anzusehen, nur: Der Tanz zerhackt die aufkeimende Geschichte. Die Wut, mit der alle Familienmitglieder Zeitungen in Müllsäcke stopfen, das heftige Atmen nach dem kollektiven Albtraum, all das bleibt Dekoration. Denn es fehlt eine Zentalfigur, deren Geschichte dieser Familienkrimi hätte sein können, kurz: der Mut zur klaren Erzählperspektive. Die kann kein Szenenpatchwork ersetzen, keine noch so eindringliche Lautsprecherstimme, die davor warnt, dass „es jeden Tag mehr vermisste Kinder gibt“. Das erinnert allenfalls an die postmoderne Beliebigkeit der immer wiederkehrenden Rede von vermissten Kindern, aus IKEA-Lautsprechern und Fernsehgeräten. Und so ist es schlicht egal, dass die Jugendlichen am Schluss in die Zuschauerreihen entwischen. KATRIN JÄGER

nächste Vorstellung: 13.12., 19 Uhr, Kampnagel