Heillose Symbiosen

Roman- und Theaterautorin Véronique Olmi zeichnet nicht auflösbare Familienkonstellationen nach. Heute liest sie im Literaturzentrum aus „Meeresrand“ und „Nummer sechs“

von CAROLA EBELING

Sicher hätte es Véronique Olmi spannend gefunden, die Theaterfassung ihres Romandebüts Meeresrand, gerade aufgeführt am Thalia Theater, zu sehen. Die Inszenierung hätte sich einen professionellen Blick gefallen lassen müssen, denn die 41-Jährige hatte sich zunächst einen Namen als Theaterautorin gemacht.

Jetzt kommt sie als Schriftstellerin nach Hamburg: Im Literaturzentrum wird sie ihren neuen Roman Nummer sechs vorstellen, aber auch aus ihrem Erstling gibt es etwas zu hören. Das ist eine gute Entscheidung, denn dieser Roman ist von einer aufstörenden Intensität: Meeresrand erzählt von einer Mutterliebe und einer Kindstötung als deren Konsequenz. Von einem nicht aufzuhebenden Verlorensein in der Welt. Die namenlose Ich-Erzählerin will mit ihren beiden fünf- und neunjährigen Söhnen ans Meer. Einmal nur, „weil das Meer, das konnte keine Enttäuschung sein, (...) das Meer ist überall für alle gleich.“ Wenn es nur so wäre. Hier ist es eine tosende braune Brühe, so trostlos wie das Hotelzimmer, so abweisend wie die Mauer vorm Fenster und die Gesten der Menschen.

In einer poetischen und präzisen Sprache zeichnet Olmi eine Persönlichkeit, die ihre Existenz nur unter der Empfindung von Scham erleben kann. Scham angesichts der Angstattacken, dem Ungenügen als Mutter. Scham auch wegen der Armut: 52 Francs in Münzen sind ihr Vermögen. Bei einer Szene im Café meint man die in der Luft liegende Spannung zu spüren: Die Verachtung des Wirts, die nach Abfuhr gierende Häme der Männer.

Die Mutter ringt um kleine Siege über die Depression, den Kindern zuliebe. Aber für ein „Wir-drei-gegen-die-Welt“-Gefühl reicht es nicht. Um sie zu schützen, erstickt sie beide Söhne. Es ist schrecklich, das tatenlos, lesend mit „ansehen“ zu müssen. Wie kann es möglich sein, dass der Akt des Widerstands ein Tötungsakt ist? Dieser Blick ist Olmis Zumutung.

Von einer anderen Art des Selbstverlusts erzählt Nummer sechs. Hier geht Olmi einer Symbiose zwischen Vater und Tochter nach. „Die jüngste, Fanny, ist nicht im Bild. Ist nicht in der Gruppe. Ist nicht am Strand. Fanny ist „Nummer sechs“, unerwünschter Nachkömmling. Der Roman beginnt, wo Meeresrand endet: am Strand. Und auch hier entfalten sich beide nicht als Orte der Weite und Entgrenzung. Die Sechsjährige läuft ins Meer, der Vater rettet sie. Aber um seine Zuwendung ringt sie vergeblich. So findet die Tochter ins gerettete Leben nicht recht hinein.

Das Gefühl, „so etwas wie ein Blick von außen zu sein“ lässt sie auch als erwachsene Frau nicht los. Olmi erzählt aus der Perspektive der 50-Jährigen, die sich des alten Vaters angenommen hat. Eine Möglichkeit, ihn endlich für sich zu haben, die Abhängigkeit umzukehren. Und doch geht es nicht um Abrechnung, sondern um Erinnerung. In kurzen Abschnitten von filmischer Eindringlichkeit blitzen die Erinnerungssplitter auf. Bilder tiefer kindlicher Einsamkeit innerhalb einer Familie, die ganz auf den patriarchalischen Vater ausgerichtet ist. Er ist der von Fanny bewunderte „Wolkenmacher“, dessen Liebesgesten alle der Mutter gelten. Die kindliche Wut muss im Inneren wüten.

Die späteren Versuche des Verstehens, sich dem jungen Soldaten im Ersten Weltkrieg, der niemals seine Alpträume loswurde, zu nähern, können die Kränkungen nicht ungeschehen machen. Die Symbiose ist so unaufhebbar, wie es für Fanny notwendig ist, die Ambivalenz gegenüber dem Vater mit ihrer Liebe zu überbrücken.

Véronique Olmi: Nummer sechs, München 2003, 100 S., 14,90 EuroLesung: heute, 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38