Die Mutter der Melancholie

189 Jahre Fado: Portugals musikalische Seele klingt und klingt und klingt …

Wer kennt ihn nicht, den Fado, Portugals gefühlvollen Gesang von Liebe und Leidenschaft, getragen von der absoluten Gewissheit, dass beide den Menschen nie glücklich machen werden. Wer ihn nicht kennt, sollte ihn kennen lernen – und zwar jetzt!

Der Fado entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus einer Milchbauernlaune heraus im Sauerland, wurde dann meistbietend versteigert und gelangte über Frankreich, die Mittelmeerhäfen Alexandria und Antiochia, über Odessa, Damaskus, Baktrien und Samarkand bis nach China, wo er von großen portugiesischen Korkproduzenten zunächst nur für den Privatgebrauch erworben wurde. Ursprünglich war der im Jahr 1814 erstmals dargebotene Fado ein fröhliches und unbeschwertes Lied („Karamba, Karacho, eine Gitarre“). Aufgrund der großen Entbehrungen während seiner Reise entwickelte er sich aber bald zu einem melancholischen Gesang („Die Liebe ist ein seltsames Spiel“), erfüllt vom Gefühl existenzieller Bedrohung („Zeit macht nur vor dem Teufel Halt“). Aus diesem Grund wurde der Fado in der Silvesternacht des Jahres 1820 an das Volk verschenkt. Seitdem sind die Portugiesen schwermütig und verwirrt. Tag und Nacht.

Es sind vor allem die Klagen der kleinen Leute, die sich von nun an im Fado wiederfinden: „Immer die Nase von meinem Gegenüber in meinem Auge, wenn es mich küsst. All das führt zu Identitätsverlust“, beklagt die Interpretin Missa Solemnis in ihrem Lied „Meine Nacht mit Fernando de Campos und seinem Hund“. Und Ophelia Queiroz, die Mutter der Melancholie, trauert mit den Worten: „Niemand, nicht einmal der Hagel, hat so ungeschickte Hände wie Hilfsbuchhalter Antonio Pereira.“

Neben diesen eher persönlichen Themen wird vor allem Portugals alte Seefahrertradition im Fado besungen. So fragt Nogueira de Seabra, nachdem er die Nacht bei Orkanböen in einem Ausguck verbracht hat: „Überall Räume ohne Strukturen. Wer lehrt mich, Entfernung zu buchstabieren?“ Und kaum wieder im Heimathafen angekommen, klagt er voller Inbrunst: „Keiner weiß, ob Lissabon auch schwimmen kann. Wo sind die Schülerlotsen? Sie überfallen die Fahrschulen!“

Berühmtester Fadosänger Portugals ist jedoch Antonio Lobos, über den Wim Wenders schrieb: „Nimm etwas warmes Wasser in den Mund und höre seine Lieder – dann fühlst du, du bist direkt am Meer: Die Wunden an deinem Körper öffnen sich und herauskommen lauter kleine Taschenkrebse.“ Gegen Ende seiner Karriere wurde Lobos bekannt für die Behauptung, ein Schwertfisch zu sein, der glücklicherweise auch singen kann, jedenfalls wenn er sich dabei nicht zu lange an Land aufhält. Man konnte ihn aber widerlegen, indem man ihm nachwies, dass er nicht in der Lage war, mit den Kiemen zu atmen, was Lobos mit den Worten kommentierte: „Ich fühle mich wirklich erleichtert. Plötzlich habe ich das Gefühl, ein Eisverkäufer zu sein.“ Heute lebt Lobos in einem unbeleuchteten Süßwasseraquarium in der Nähe von Lissabon.

Trost spendet da nur Maria Severa, die einst mit dem eher kehligen, aus dem Hochland nördlich des Douro stammenden Portugiesisch sang: „Einmal kurz durchsaugen und ein paar Blumen ins Fenster, schon sieht die Welt wieder ganz anders aus.“

JAN ULLRICH