Der Erbfeind

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Als Paul Bremer sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag im Weißen Haus meldete, konnte der US-Besatzungschef im Irak Präsident George W. Bush das mit Abstand größte Weihnachtsgeschenk verkünden, das dieser sich erhoffen durfte. „We got him!“ Dabei hatte wohl kaum jemand in den letzten Wochen noch geglaubt, dass es den US-Special-Forces in absehbarer Zeit gelingen könnte, den gestürzten irakischen Diktator zu schnappen. Zu oft hatten sich Hinweise auf seinen Aufenthaltsort als falsch erwiesen, zu oft hatte Saddam die Amerikaner erfolgreich genarrt.

War es den US-Streitkräften nach der Eroberung Bagdads noch gelungen, die Flucht Saddams als irrelevant für die weitere Entwicklung darzustellen, wurde der abgetauchte Diktator bald zu einem immer böseren Albtraum für Bush und seine Gefolgschaft. Als Saddam bereits kurz nach seinem Verschwinden aus einem Versteck irgendwo im Irak seine erste Videobotschaft über den Fernsehsender al-Dschasira lancierte und den Irakern in der gewohnt großspurigen Diktion die „baldige Vertreibung der Besatzer“ ankündigte, hielt die US-Armee dies für das Pfeifen im Walde eines Geschlagenen. Doch Saddam zeigte der Welt und seinen Anhängern ein letztes Mal, dass für ihn die Mutter aller Schlachten noch nicht zu Ende war.

Vielleicht wird man in einem Prozess gegen Saddam mehr darüber erfahren, welche Rolle er selbst bei den fortgesetzten Angriffen auf die US-Besatzungstruppen seit dem von Bush offiziell verkündeten Ende des Krieges gespielt hat. Die ersten Bilder des gefangenen, scheinbar in sein Schicksal ergebenen Mannes und die Erklärung, er habe seit seiner Verhaftung kooperiert, lassen eine interessante Verhandlung erwarten. Bis jetzt hatte schon allein die Tatsache, dass Saddam nicht gefangen genommen worden war, für viele seiner Anhänger wie eine Aufforderung zur Fortsetzung des Kampfs gewirkt. Und in diesem Guerillakrieg gelang es immer wieder, mit Anschlägen und direkten Angriffen auf die US-Truppen so viel Angst und Schrecken zu verbreiten, dass selbst ein vorzeitiger Rückzug der USA nicht mehr als völlig ausgeschlossen galt. Der längst erledigt geglaubte Saddam wurde aus dem Untergrund noch einmal zu einem ernst zu nehmenden Gegner für die Supermacht. Alle Spekulationen über einen Deal nach dem Motto „Exil gegen Aufgabe“ erwiesen sich als Wunschdenken. Saddam dachte offenbar gar nicht daran, zu verschwinden, sondern scheint im Gegenteil geglaubt zu haben, dass er noch einmal an die Macht zurückkehren könnte.

Diese Hoffnung einiger und Befürchtung vieler ist nun vorbei. Vor allem die Kurden, deren Miliz an der Festnahme des Diktators beteiligt gewesen sein soll, werden die Gefangennahme als den endgültigen Sieg über eine jahrzehntelange Diktatur empfinden. Seit das Baath-Regime Mitte der 70er-Jahre den größten militärischen Aufstand der Kurden innerhalb des Irak niederschlug, haben Saddam und seine Machtclique versucht, durch Deportation, Vertreibung und Vernichtung das kurdische Autonomiebestreben zu brechen und die arabische Vorherrschaft an Euphrat und Tigris zu sichern.

Seit ihrer Machtübernahme 1968 hatten die Baath-Partei allgemein und Saddam Hussein persönlich nie vor, die Kurden als zweite große ethnische Gruppe im Irak als gleichberechtigte Partner anzuerkennen. Wie für die Vorgängerregierungen war auch für die Baath-Partei klar: Der Irak ist ein arabisches Land. Mehr noch als die korrupte Königsfamilie zuvor definierten sich die Baathisten als arabische Nationalisten. Das Land mit einem zweiten, kurdischen Staatsvolk zu teilen, war undenkbar.

Die Folge davon war eine Politik der Vertreibung, Assimilierung und Vernichtung der Kurden im Irak: Den traurigen Höhepunkt dieser Politik erlebten die Kurden 1988. Kurz vor dem Waffenstillstand im Krieg gegen den Iran ließ Saddam die kurdische Kleinstadt Halabscha mit Nervengas bombardieren. Tausende Menschen starben einen qualvollen Tot. Es war die Rache des Diktators für die angebliche Zusammenarbeit der Kurden mit dem Feind. Um zu verhindern, dass die Kurden künftig noch einmal einen Aufstand wagen könnten, initiierte das Baath-Regime die so genannte Anfal-Kampagne. Deren Ziel war es, die kurdischen Gebiete im Nordirak zu entvölkern und die Kurden über den Irak zu verstreuen oder gänzlich zu vertreiben. Hunderte von Dörfern wurden vernichtet. Wer sich wehrte, wurde erschossen – wer nicht, deportiert: in die Wüste entlang der irakisch-jordanischen Grenze, in Containerdörfer im Süden. Wer konnte, floh in die wenigen kurdischen Städte, nach Arbil, Suleymania oder Dohuk. Tausende verschwanden in die Türkei oder in den Iran, tausende wurden ermordet.

Doch die Kurden waren nicht Saddams einziges Problem. Der Irak hat eine sowohl ethnisch wie religiös sehr heterogene Bevölkerung aus Schiiten, Sunniten und einer kleinen Gruppe von Christen, aus Arabern, Kurden, Turkmenen und den so genannten Sumpf-Arabern im Mündungsdelta von Euphrat und Tigris. Saddam stützte seine Herrschaft fast ausschließlich auf die Gruppe der sunnitischen Araber, eine Minderheit, die hauptsächlich im Gürtel rund um Bagdad und nördlich von Bagdad lebt.

Nach einer Phase relativer Prosperität im Irak unter der Herrschaft der Baath-Partei in den 70er-Jahren – dank der Verstaatlichung der Ölindustrie hatte Saddam genug Geld, um auch in Ausbildung und Gesundheitssystem zu investieren – ging es nach der Revolution im Iran und dem nachfolgenden, von Saddam angezettelten Krieg zwischen Irak und Iran nur noch abwärts im Zweistromland. Die Loyalität zum Regime, die sich anfangs bei einem großen Teil der Bevölkerung noch über wachsenden Lebensstandard herstellen ließ, musste nun durch Repression erzwungen werden.

Saddam hat im Laufe seiner Karriere hinlänglich gezeigt, dass sich für ihn Gewalt immer als probates Lösungsmittel angeboten hat. Während diese Gewalt sich zunächst vor allem gegen seine Konkurrenten und Widersacher in der Partei und im Staatsapparat richtete, wurde nun flächendeckende Repression zum eigentlichen Machtinstrument des Regimes. Die Massengräber, die inzwischen entdeckt worden sind und nun nach und nach die Grausamkeiten von Saddam und seiner Clique auf erschreckende Weise dokumentieren, sind das Ergebnis dieser Repressionspolitik, die sich vor allem nach der iranischen Revolution entfaltete. Saddam fürchtete, dass sich der Funken der Revolution auf die Schiiten im Irak ausbreiten könnte. Dem setzte er verstärkte Kontrolle und die Unterdrückung jeglicher Opposition entgegen. Die Baath-Partei wurde zum universalen Überwachungsinstrument, immer neue Geheimdienste und Sonderpolizeien entstanden. Je mehr Saddam sich hinter die Bajonette seiner Prätorianergarden zurückzog, umso grausamer wurde seine Herrschaft.

Er hat versucht, dies mit arabischem Nationalismus, später selbst durch die Instrumentalisierung des Islam zu übertünchen. Abgenommen hat ihm das im Irak kaum jemand. Es hätte viel Geld bebraucht, um sich die Loyalität seiner Bevölkerung zurückzukaufen und seine Herrschaft wieder zu stabilisieren. Das war der Grund, warum Saddam seine Truppen nur zwei Jahre nach dem Krieg gegen den Iran, der acht Jahre gedauert und das Land völlig erschöpft hatte, in Kuwait einmarschieren ließ. Das Scheichtum war die Bank, die Saddam knacken wollte. Doch wie schon beim Angriff auf den Iran – er verrechnete sich total. Seit der verheerenden Niederlage gegen die Golfkriegskoalition im Frühjahr 1991 kämpfte Saddam nur noch um sein Überleben. Nicht nur im politischen Sinne. Der Mann, der in den 70ern davon geträumt hatte, zum Nachfolger Nassers in der arabischen Welt zu werden, war ein gehetzter Diktator, der sich etlicher Doubles für öffentliche Auftritte bediente und kaum zwei Nächte nacheinander im selben Palast schlief. Paradoxerweise verhinderten die nach dem zweiten Golfkrieg verhängten Sanktionen gegen den Irak einen Aufstand gegen den Diktator eher, als dass sie zu seinem Sturz beitrugen.

Die Iraker glaubten, sie säßen mit Saddam in einem Boot, international isoliert und nur noch mit dem täglichen Überleben beschäftigt. Wer fliehen konnte, floh. Ohne die Terroranschläge vom 11. September 2001 wären wohl die Sanktionen gegen den Irak sukzessive gelockert worden, und das Land wäre mittlerweile auf Kurs zurück in die internationale Staatengemeinschaft. Dass das zu einem Aufbäumen gegen Saddam geführt hätte, ist zu bezweifeln. Wahrscheinlicher wäre wohl ein syrisches Szenario gewesen: Saddam übergibt die Macht – freiwillig oder gezwungenermaßen – an seinen Sohn Kusai. Ob es nun nach der Festnahme Saddams zu einer wirklichen Befriedung des Landes kommt, werden die nächsten Wochen zeigen.