Deutsche Wunderbleibe

Während der Fußball-WM 2006 wird die deutsche Nationalmannschaft im Berliner Schlosshotel Grunewald residieren. Logisch! Nur in Berlin werden Untergänge und Wunderwaffen ausbalanciert

VON HELMUT HÖGE

Seitdem das deutsche Staatsvolk keine Klassen, sondern nur noch Rassen (Ethnien), Religionen und Nationen kennt, wurde flankierend auch eine neue Reihe „authentischer“ Historienschinken gedreht. „Dabei handelt es sich um eine Art – man möchte fast sagen ‚staatlicher‘ – Filme: große, teure Produktionen, die sich ausschließlich mit der Vergangenheit befassen und ihr Recht einfordern, ihr Bild von der Vergangenheit als ‚erwünscht‘, ‚erforderlich‘ oder sogar als ‚wahr‘ zu proklamieren“, schreibt der serbische Filmregisseur Zoran Solomun. Dieses neue Genre begann mit dem „Wunder von Bern“ und endet noch lange nicht mit „Der Untergang“.

Beides habe ich schon vor der Wiedervereinigung quasi persönlich erlebt – und zwar in Bremen, wo der Untergang nahezu der gesamten Verarbeitungs- und Küstenindustrie einherging mit dem Wunder von Werder Bremen, das Arbeitslose wie Akademiker in einen bis heute anhaltenden lokalpatriotischen Taumel versetzte – zumal Trainer Otto Rehhagel dann dort auch noch das Citycafé „Casablanca“ des ehemaligen Anarchisten und Hausbesetzers Barry zu seiner Stammkneipe erkor, woraufhin der Wirt, Barry, zum wichtigsten Gastronomen der Hansestadt aufstieg und der Werder-Geschäftsführer Willi Lemke gar zum Schulsenator.

Schlosshotel-Spione

Jetzt hat Teamchef Jürgen Klinsmann diese Notwendigkeit – auf Bundesebene – ebenfalls erkannt: und das Schlosshotel Grunewald in Berlin zum Domizil des deutschen Nationalteams während der Fußball-WM 2006 erwählt. Für einige bereits der erste „WM-Mega-Hammer“. Zwar ließ „Klinsi“ sogleich verlauten, dass er diese Entscheidung – die die seines Vorgängers Rudi Völler für den Quartier-Standort Leverkusen revidiert – ganz allein gefasst habe, aber im Vorfeld gab es dazu kräftig wirtschaftlichen und politischen Druck.

So begrüßte denn auch der Innenminister Otto Schily als Erstes „das klare Bekenntnis des Trainers für die Bundeshauptstadt“: „Das ist ein gutes Zeichen für Berlin“. Ihm schloss sich der Formel-1-Serienweltmeister Michael Schumacher an: „Der Entschluss für Berlin ist ein wichtiges Signal“. Auch der Tagesspiegel wusste – speziell über die neue Nobelherberge der Nationalelf – nur Gutes zu berichten: „Als Erster trug sich dort 1914 der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., ins Hotelbuch ein.“ Nach 1945 kamen kurz die Engländer, dann wurden aber auch bereits wieder die ersten deutschen Empfänge im Schlosshotel gegeben – unter anderem für Konrad Adenauer. „Später zog es vor allem die Filmbranche in die mit italienischen Malereien verzierten Räume.“ Erwähnt werden unter anderem Peter Ustinov und Romy Schneider, die dort ihre Hochzeit mit Daniel Basini feierte. Heute gäbe sich das Hotel diskret, wenn man nach prominenten Gästen fragte: „Wir geben nichts raus“, wird eine Sprecherin zitiert.

So wie einst Stasichef Mielke vor dem Spiel seines Lieblingsvereins FC Dynamo Berlin deren Gegner, die Mannschaft von Werder Bremen, abhören ließ, werden demnächst wohl auch die Springer-Verlag-Journalisten das Schlosshotel verwanzen, um genau mitzubekommen, ob und wie zum Beispiel die Spielerfrauen unsere Elf für die Fights fit machen. Man muss sich wohl die Berichterstattung aus dem Schlosshotel (vom 9. Juni bis 9. Juli) so ähnlich vorstellen wie einen historischen Kostümfilm in einem „Big Brother“-Container.

Und genau genommen hat sie ja schon angefangen: „Das Hotel hat 54 Zimmer, verfügt über ein Bistro und ein Gourmet-Restaurant, zur Entspannung gibt es Massagen, Saunen und einen Swimmingpool, außerdem ist der Trainingsplatz des Nationalteams nur 15 Minuten entfernt: auf dem Olympiagelände von 1933, wo auch wieder das Pressezentrum entstehen soll“, verlautbart man bereits. Von seinem Plan, das erste Trainingslager vor der WM auf Sylt aufzuschlagen, rücke Klinsmann allerdings nicht ab.

Berliner Balancen

Nach der Erholung dort geht es aber gleich weiter in Berlin, wie Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff ausplauderte: „Die Mannschaft muss sich in der Hauptstadt präsentieren. Wir wollen im Fußballfieber drin sein!“ Und das geht nirgends besser als in Berlin, wo wie in keiner anderen deutschen Stadt Wunderwaffen und Untergänge sich immer wieder ausbalancierten.