Endlich den Blickwinkel weiten

betr.: „Das Fest der Liebe“ (Unistreik), Kommentar von Uwe Rada, „Kein Bock auf Uni-Kommission“ von Richard Rother, taz vom 10. 12. 03

Der Kommentar zu den Studentenprotesten ist ausgesprochen hochnäsig. Die Berichterstattung zeugt außerdem von einer über den Dingen schwebenden Position herrschaftskonformer 68er (oder deren Nachkommen), die nur noch rummäkeln und zuweilen zynisch sind, aber wenig zur sachlich-kritischen Diskussion beitragen.

Wo ist denn eure Kapitalismuskritik? Wo ist eure kritische Auseinandersetzung mit der hiesigen wie weltweiten Wirtschaftlogik? Baut ihr nicht selbst mittlerweile mehrheitlich auf solche Mythen: Wirtschaftswachstum schafft Arbeitsplätze oder wie es so schön in der Broschüre zur Agenda 2010 der Bundesregierung heißt: „Gerecht ist, Menschen schneller in Arbeit zu bringen“, egal wozu, unter welchen Bedingungen usw.? Und ist es nicht ein bisschen einfach, der jungen Generation vorzuwerfen, dass sie nicht in irgendeiner Kommission mitarbeiten will, die letztlich doch völlig undemokratisch zustande käme und nur das übliche Vereinnahmungsprinzip verfolgt: Protestpotenzial spalten, vereinnahmen und letztlich auch noch mit verantwortlich für die Kürzungsorgien machen?

[…] Wer setzt denn seit Jahren auf Millionensubventionen für scheiternde Großprojekte der Industrie, wer bürgt mit Steuermitteln für unseriöse Bankgeschäfte, wer saniert für 70 Millionen einen Palast der Republik, um ihn für 40 abzureißen, wer gibt lieber Geld für Kampfjets aus, als für Bildung und Soziales, wer macht die Billigjobs erst richtig zum Renner, wer sitzt bei internationalen Konferenzen am Tisch, wenn es um die Privatisierung von gesellschaftlich-öffentlichem Eigentum geht, und wer macht die Bürokratie immer fetter? Und wer setzt sich in ein Fernsehstudio, um über die Zukunft, aber nicht mit der Zukunft zu reden? Mit denen sich an einen Tisch setzen, um sich über selbigen ziehen zu lassen, und deren Macht absichern? Das kann nicht euer Ernst sein.

Und es gibt zahlreiche Bestrebungen, die die Proteste mit anderen vom Sozialabbau Betroffenen zu bündeln versuchen und alles andere als unpolitisch sind. […] Eure Aufgabe wäre es, Hintergründe zu thematisieren, in eurem ursprünglichen Selbstverständnis die Proteste politisch zu begleiten und Zusammenhänge mit Entwicklungen in anderen Bereichen der Gesellschaft hier und in anderen Ländern herzustellen, anstatt den Protest totzuschreiben! In Frankreich gehen StudentInnen auf die Straße, in Italien sowieso, und in Polen gibt es seit Jahren massive Arbeitskämpfe, einer immer ärmer werdenden Bevölkerung. Dies mal zusammenzubringen und zu analysieren – gerade jetzt, das wäre die Aufgabe einer sich immer noch als links bezeichnenden Tageszeitung. […] Nirgends schafft ihr den Zusammenhang, der zum Beispiel am 13. 12. auf die Straße gebracht werden wurde: Alle gemeinsam gegen die Sauereien der Einheitsfront von PDS, Grünen, SPD, CDU/CSU und FDP mit samt ihrer auf Profit schielenden Wirtschaftsbosse. Das Gerechtigkeitsmodell der politischen Elite ist alles andere als gerecht, es schafft keine gleichen Chancen für alle und orientiert sich zu dem an den selbst geschaffenen Zwängen einer global gemachten Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik, die eben nicht vom Himmel gefallen ist. […] Die Proteste thematisieren die Auswirkungen einer völlig verfehlten Politik aller größeren Parteien. Sie zeigen, dass egal unter wem, das gleiche passiert und eine Umverteilung nach oben als sozial gerecht umgedeutet wird. […] TINO KRETSCHMANN

Gerne lade ich Uwe Rada ein, von seiner Seite des Schreibtisches den Weg hinaus zur Studierendenschaft zu wagen – an Stellen, wo durchaus die massiven Bildungskürzungen in Berlin in Kontext gesetzt werden zu (landes-, deutschland- und europaweitem) Sozialabbau und Verwertungslogik. Das zu erkennen und die Einsicht zu haben, dass gesellschaftspolitische Ziele in einer so heterogenen Gruppe wie der Studierendenschaft nicht von heute auf morgen zu formulieren sind, bedarf allerdings der Anstrengung, sich mit den laufenden Prozessen etwas detaillierter auseinander zu setzen.

Während aber beispielsweise am Otto-Suhr-Institut bereits das dritte Treffen mit Obdachlosen, Behinderten, Frauenverbänden, Vertretern der Kitas und SchülerInnen stattfindet, während die Betteldemonstration in Grunewald aus einem ebenso vielfältigen Bündnis erwachsen ist, während Gespräche mit Betriebsräten zur guten Regel werden und in jeder studentischen Resolution der gesellschaftspolitische Zusammenhang herausgestellt wird, erscheint es etwas einfach, das stolze Klagelied des kurzsichtigen Studierenden vor dem eigenen Protest-Fotoalbum zu behaupten. Hinter den vielen vehement vertretenen Scheinargumenten des Bildungsraubs die gesellschaftspolitischen Auswirkungen zu entblättern, bedarf heute eines längeren Atems als zu radikal-konfrontativen Zeiten früherer Jahrzehnte. Das Angebot besteht – nicht nur an Uwe Rada: Nicht ich, sondern eine Berliner Studierendenschaft lädt ein, endlich den Blickwinkel zu weiten, diese unsinnigen Maßnahmen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. […] MARTIN KAUL

betr.: „Streiken und Scheine machen“, taz vom 5. 12. 03, „Die Kamera liebt dich“, taz vom 12. 12. 03

Warum wird eigentlich immer noch behauptet, die Studentinnen streikten ohne Inhalt? Jede Uni hat ihre Forderungen verfasst, TU, HU und FU haben eine gemeinsame Resolution verabschiedet. Es wurden AGs gegründet, um politische Alternativen zu diskutieren. Die Besetzungsaktionen, die als „mediale Selbstinszenierung“ bezeichnet werden, haben neben der Präsenz in den Medien – die in einem Land wie diesem leider nötig ist, um etwas zu erreichen (was man daran sehen kann, dass die politischen Diskussionen, die nicht in der Öffentlichkeit stattfinden, von der Presse auch stets geleugnet werden) – auch die Diskussion mit Politikern zum Ziel, die sich auf anderen Wegen bedauerlicherweise schlecht erreichen lassen.

Die öffentlichen Seminare hingegen, die als „keine ordentliche Besetzung“ zu harmloser Studentinnen belächelt werden, haben auch nicht den Sinn einer Besetzung, sondern sind ein Mittel der Studentinnen der „Spaßgeneration“, im Unterrichtsstoff fortzufahren und nebenher noch etwas für den Streik zu tun. Vielleicht sollte uns zugestanden werden, fähig zu sein, den Unterschied zwischen der Notwendigkeit einer Besetzung und der Alternative der symbolischen Besetzung zu erkennen. SARAH MEIER

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