MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON KOLJA MENSING
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Raubritter

Michael-André Werner: „Schwarzfahrer“. Aufbau TB, Berlin 2003. 205 S., 7,95 €

„Krige keine Sohzialhilfe mehr“, schreibt Kork, der nach neun Semestern Germanistik eigentlich relativ sicher in der deutschen Rechtschreibung ist, auf ein Stück Karton und bezieht pflichtbewusst seinen Posten an einem Berliner U-Bahnhof: „Betteln ist eine Dienstleistung.“ Er lebt ganz gut vom schlechten Gewissen anderer, doch als er Doberstein kennen lernt, einen ehemaligen Stabsgefreiten der nationalen Volksarmee, stoßen die beiden auf eine lukrativere Erwerbsquelle. Sie kaufen sich blaue Jacketts und Quittungsblöcke und kontrollieren zusammen mit ihrem Kompagnon Zabel im eigenen Auftrag die U-Bahnen. Kein Fahrschein? „Tja, das macht sechzig Mark.“

Michael-André Werners Debut „Schwarzfahrer“ ist ein Schelmenroman aus der Mitte einer karnevalesken Kontrollgesellschaft, in der eine schlecht sitzende Uniformjacke und ein fantasievoll gefälschter Dienstausweis bereits genügen, um sich in die Gemeinschaft der privaten Sicherheitsdienste einzugliedern und abzukassieren. Korks Karriere vom trägen Bettelstudenten zum engagierten Trickbetrüger parodiert darüber hinaus recht treffend den Aufstieg vom Langzeitarbeitslosen zum Betreiber einer Ich-AG, mit dem die Arbeitsmarktstrategen der Bundesregierung derzeit den Niedergang des Sozialstaates schönreden. In einer Zeit, in der sich jeder selbst der nächste ist, gilt es, Eigeninitiative zu zeigen.

So bilden Kork, Zabel und Doberstein die Vorhut eines modernen Raubrittertums, das sich im Schatten der Agenda 2010 vermutlich rasant ausbreiten wird. Im Moment ist noch Beute genug für alle da. „Wollt ihr oder sollen wir?“, fragen die drei selbst ernannten Kontrolleure großzügig ihre in Zivil gekleideten Kollegen, die an einer der vielen ausgesprochen komischen Stellen dieses Roman ebenfalls gerade in einem Abteil ihre Quittungsblöcke zücken wollen – und die, wie sich nachher herausstellt, noch nicht einmal Ausweise dabei haben …

Muscheln

Hanns-Josef Ortheil: „Die große Liebe“. Luchterhand, München 2003, 316 S., 22,50 €

Hanns-Josef Ortheils neuer Roman trägt den Titel „Die große Liebe“. Genau darum geht es auch. Ein Fernsehredakteur, er nennt sich Giovanni, reist aus München an die italienische Adria, um einen Dokumentarfilm vorzubereiten. Dort lernt er die Meeresbiologin Franca kennen, und es ist die große Liebe, „ohne Herzschmerz und Eifersucht, ohne Intrigen und Vorbehalte, ohne jeden Kummer und Rücksichten.“

Nun ist es nicht leicht, vom Glück zu erzählen, schon gar nicht, wenn es sich in einer italienischen Hafenstadt ereignet, die Tische in den kleinen Restaurants sich unter Tellern voller delikater Vorspeisen und sagenumwobener Fischsuppen biegen, sich „auf seltsame Weise ein Kochrezept in lauter meeresbiologische Details“ verwandelt und beim Espresso aus den zoologischen Fachtermini Liebesschwüre werden. Dann nämlich fragt man sich, wie es Ortheil gelungen ist, diesen Roman vor dem zu bewahren, was man gemeinhin Kitsch nennt – und kitschig ist dieses Buch tatsächlich überhaupt nicht.

Ein Grund ist sicherlich die sorgfältige Art und Weise, mit der Ortheil seine Worte wählt. Gleich der erste Satz zum Beispiel – „Plötzlich das Meer, ganz nah, eine graue, stille, beinahe völlig beruhigte Fläche“ – verzichtet auf das Prädikat, um Giovannis morgendlichen Blick aus dem Zugabteil noch abrupter und überwältigender zu gestalten, nur um dann mit dem Zusatz „beinahe“ das stille Wasser doch noch in Unruhe zu bringen. Die Unruhe wird sich durch den ganzen Roman ziehen. Je detaillierter Ortheils Erzähler sich den Beschreibungen der kulinarischen Köstlichkeiten widmet und mit der Gabel noch die kleinsten Zitronenblätter in den Spaghettisaucen aufspießt, je eindringlicher er sich von Franca den Mikrokosmos des Meeres vorführen lässt und mit Proust’scher Genauigkeit in seinem Notizbuch der Liebe nachspürt, desto mehr wächst das Gefühl einer vagen Bedrohung. Dass es schließlich nicht in einer Auseinandersetzung mit einigen Hafenarbeitern kulminiert, die von Giovannis Nebenbuhler gedungen werden, sondern in einer kleinen literarischen Selbstreflexion, ist die traurige Überraschung dieses schönen Buches. Die einzige wirklich tragische Stelle dieser von erfüllter Sehnsucht getragenen Geschichte ist die, an der Giovanni erkennen lässt, dass er um sein eigentliches Schicksal weiß. „Wir befinden uns aber in einem Roman“, erklärt er, „Franca und ich – wir schreiben gleichsam an einem Roman.“ Und so ist ihr Glück zuletzt trotz Happy End doch nur aus Papier gemacht.

Liebende

Friedrich Ani: „Gottes Tochter“. Droemer, München 2003. 395 S., 19,90 €

Friedrich Ani hat seine äußerst erfolgreiche Krimiserie um den schweigsamen Kommissar Tabor Süden auf maximal zehn Folgen angesetzt. Fans dürfte es allerdings freuen, dass Ani bei dieser Obergrenze ein wenig schummelt. Süden, der in der im Taschenbuch erscheinenden Serie als Ich-Erzähler auftritt, tauchte im Hardcover „German Angst“ ebenfalls als ermittelnder Kommissar und einer von mehreren personalen Erzählern auf.

Jetzt erscheint noch so ein versteckter Süden-Roman außer der Reihe. „Gottes Tochter“ erzählt in Anlehnung an „Romeo und Julia“ von zwei Teenagern, deren Liebe unter einem unglücklichen Stern steht. Julika, gerade achtzehn, verlässt das Haus ihrer Eltern in München und fährt zu Rico, den sie einige Wochen zuvor bei einem Aufenthalt an der Ostsee kennen gelernt hat. Süden reist ihr hinterher, unwillig zunächst, weil die Polizei eine Volljährige schließlich nicht zu ihren Eltern zurückbringen kann. Doch dann gibt es eine Tote auf einem Partyschiff im Hafen, und Julika wird nun mindestens als Zeugin gesucht. Die Stadt wird nie beim Namen genannt, auch Jahresangaben fehlen, aber man kann sich schnell zusammenreimen, dass mit dem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim, bei dem das tote Mädchen auf dem Schiff einige Jahre zuvor dabei war, der von Schaulustigen umjubelte Übergriff von 1992 in Rostock-Lichtenhagen gemeint ist.

Der westdeutsche Schriftsteller Friedrich Ani hat mit „Gottes Tochter“ einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, allein deswegen, weil er das für einen Krimi ergiebige Rostocker Ambiente aus Plattenbauten, Ausländerfeindlichkeit und sozialer Tristesse nicht als Bühne für ein ostdeutsches Gesellschaftsdrama nutzt. Schließlich ist es Julika, die im Zentrum der Geschichte steht – das verwöhnte Münchner Mittelstandskind, das die heile Welt ihrer Kindheit und Jugend nicht mehr erträgt und auf der Suche ist nach einem „Raum, unverwüstet vom Terror ihrer Eltern“. Es mag von Bedeutung sein, dass sie diesen Raum ausgerechnet in einem der hoffnungslosesten Orte der ostdeutschen Provinz findet. Die Analogie zu „Romeo und Julia“ besteht jedoch nicht darin, dass in diesem Roman zwei Liebende aus Ost und West wie aus verfeindeten Familien zusammenfinden. Mit Rico und Julika flüchten sich zwei viel zu erwachsene Kinder aus einer im Osten wie im Westen gleichsam feindlichen Umgebung, in der sie „keine eigene, sondern nur hingeworfene Zeit“ haben, in eine bedingungslose Liebe. Am Ende dieser Liebe wartet, wie bei Shakespeare, schon der Tod: „Ich will dir deine Lippen küssen / Ach, vielleicht hängt noch ein wenig Gift daran.“

Pfifferlinge

Birgit Vanderbeke: „Geld oder Leben“. Fischer, Frankfurt a. M. 2003, 139 S., 16,90 €

Bei „Geld oder Leben“ von Birgit Vanderbeke handelt sich nach einem kurzen Blick auf den Klappentext offenbar nicht um einen Roman, sondern um eine Art Essay, in dem die Frage behandelt wird, woran die Menschen glauben. Beginnt man dann zu lesen, wird man auf eine Ich-Erzählerin stoßen, die im Alter der Autorin ist und zunächst einmal von ihrer Großmutter berichtet. Die Großmutter glaubte an Pfifferlinge, und nach ihrem Tod stießen die Verwandten in ihrem Keller auf hunderte von Gläsern mit eingemachten Pilzen. Interessant, vor allem, wenn man über die Großmutter mehr erfahren würde, aber es geht nicht um die Großmutter, sondern um die Erzählerin. Sie besucht in den späten Sechzigerjahren und frühen Siebzigerjahren die Schule, studiert und wird Anfang der Achtzigerjahre von der Einsicht getroffen, dass sie „schließlich irgendwann sterben muss … und man kann dieses bisschen Zeit unmöglich auf albernere Weise verbringen als mit Zahlenkolonnen, die auch noch Zinsen oder Gebühren heißen und eine ganz dumme Sache sind“, kurz: Sie entscheidet sich (erwartungsgemäß) gegen das Geld und glaubt nun an das Leben.

Diese „Überlegungen“, merkt man im Laufe der Lektüre, sind in die Form eines verhuschten Generationenromans gegossen. Birgit Vanderbeke distanziert sich von den Kommilitonen, die „Basisdemokratie“ spielen, spottet gutmütig über ihre Altersgenossen, die zu Hare Krischnas werden, erzählt von der Ölkrise, der ersten Milchschnitte und Aids, und all das nennt sie nicht beim Namen, sondern umschreibt es – „Araber“, „klebriger Milchschaum“, „Rauschgift mit unsauberen Spritzen in die Arme spritzen“ – in einem leicht kindlichen Tonfall. Peinlich wird es dann, wenn aus dieser gespielten Naivität (die in Vanderbekes Romanen immer gut funktioniert hat) Ernst wird, und die Erzählerin zunächst das konsumorientierte Kabelfernsehen und dann die geldverliebte New Economy zum Übel alles menschlichen Miteinanders erklärt. Und sie selbst wird sehr glücklich damit, ein Kind zu haben. Glückwunsch. Man würde wirklich gerne mehr über die Regale mit den eingemachten Pilzen der Großmutter wissen.

Müßiggänger

Wolfgang Schneider: „Die Enzyklopädie der Faulheit. Ein Anleitungsbuch“. Eichborn Berlin, Frankfurt a. M. 2003. 190 S., 24,90 €

Die Faulheit hat viele Feinde. Während man sich im antiken Griechenland mit Aristoteles noch darauf einigen konnte, dass „Arbeit und Tugend einander ausschließen“, so gerät das Nichtstun spätestens mit Paulus’ Diktum, dass wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll, unter starken Beschuss. Von Luthers „Tatgesinnung“, die den Müßiggang zur „Sünde wider Gottes“ macht, ist es über Schillers Vers von der Arbeit als „des Bürgers Zierde“ nur ein kurzer Weg zu Gerhard Schröders Kanzlerwort, dass es „kein Recht auf Faulheit gibt“.

Der gerade erst verstorbene Publizist Wolfgang Schneider zeichnet diesen vermeintlichen Common Sense der Fleißigen in dem Vorwort zu seiner „Enzyklopädie der Faulheit“ nach, nur um dann mit längeren Textauszügen und vielen kleinen Zitaten zu zeigen, dass man auch anderer Meinung sein kann. Neben Klassikern wie Joseph Freiherr von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“, dem „Kleinen Prinzen“ oder Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ versammelt dieser Band Wissenswertes über die „Faulheit im Tierreich“ oder die von Montaigne begründete literarische Tradition, die die Angehörigen von Naturvölkern zu Vorbildern für ein durch Arbeit unverdorbenes Leben stilisierte. Zuletzt stellt Wolfgang Schneider hellsichtig fest, dass es eigentlich paradox ist, der Faulheit ein Buch zu widmen, „denn es setzt zumindest ein gewisses Maß an Arbeit voraus“. Auch eine Besprechung dieses inspirierenden Werkes sollte nicht ausarten – selbst wenn der Rezensent nach Zeilen bezahlt wird. Nicht Faulheit nämlich, so Goethe, sondern „unbedingte Tätigkeit macht zuletzt bankrott“.