Das Grauen hinter den Türen

KAMMERSPIEL Nicht als Familiengeschichte, sondern als kafkaesk-ironisches Behördendrama greift „Kaspar Häuser Meer“ das Thema Kindesmisshandlung auf. In Oldenburg feierte das Stück Premiere

Man sieht keine verwahrloste Wohnung, kein misshandeltes Kind und keine renitenten Eltern. Barbara, Anika und Silvia sind ihre eigene Hölle

Sie gönnen ihm noch nicht mal sein Burn-Out-Syndrom. „Dabei hat man mir immer unterstellt, dass es mich als erstes...“, grummelt Kollegin Barbara. Doch Björn ist weg, Björn-Out. Die drei verbleibenden Kolleginnen, Sozialarbeiterinnen im Jugendamt, die ohnehin längst am Limit arbeiten, müssen seine 104 Fälle übernehmen.

Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“ entstand, nachdem im Jahr 2006 die Leiche des zweijährigen Kevin in einem Bremer Kühlschrank gefunden wurde. Die reflexartige Suche nach säumigen Bürokraten im Jugendamt nahm die Autorin und Medienkünstlerin aus Neukölln als Ausgangspunkt für ihr Kammerspiel, das jetzt im Oldenburger Staatstheater Premiere feierte.

Man sieht keine verwahrloste Wohnung, kein misshandeltes Kind und keine renitenten Eltern. Barbara, Anika und Silvia sind ihre eigene Hölle: Drei Over-Achiever (Überleister) unter Strom, die sich zwischen Gutachten, Statistiken und Besprechungen aufreiben und nie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind.

Die mütterliche Barbara inszeniert jeden Fall als Drama und versucht mit manipulativen Tricks, die Regie an sich zu reißen. Silvias Sprache verschmilzt immer mehr mit der ihrer Klienten, wenn sie ihr Ungenügen entschuldigt: „Ey, tut mir Leid, ich schwörs, das war das letzte Mal.“ Und Anika, überforderte alleinerziehende Mutter, wird vollends ihr eigener Fall. Patrizia Wapinska spielt sie mehr als kafkaeske Beamtin denn als gefühlige Sozialpädagogin, wie die drei in der Sprache Felicia Zellers wunderbar ironisch gezeichnet sind: Da sucht man Ruhe auf der „inneren Parkbank“ oder man „setzt das Problem auf einen Stuhl“.

Regisseurin Christiane Goulard hat die Frauen in einer Art Boxring angeordnet, in dem sich jede zunehmend in ihr eigenes Spinnennetz aus Gummibändern verstrickt. Ganz am Anfang gab es mal eine Berührung von allen dreien, und die führte gleich zu einer Art Kurzschluss: Blitz, Licht aus. Die Frauen reden aneinander vorbei, sind sich nie einig und kommen zu keiner Entscheidung. Ist das Kind bei den Eltern am besten aufgehoben oder muss man es vor ihnen schützen?

Die Positionen wechseln, am Ende entscheidet die gesichtslose „Leitungsebene“. Sind die Probleme im Jugendamt also hausgemacht? Fast scheint es, als wolle die Autorin das nahe legen, wenn die Frauen in der zweiten Hälfte des Stückes zunehmend aufeinander losgehen. Doch sagt Silvia eigentlich selbst, wie grundsätzlich sinnlos pädagogische Interventionen von Amts wegen sind, wenn sie sich gegen Barbaras scheinheilige Fragen nach ihrem Alkoholproblem wehrt: „Ich vertraue mich doch niemandem an, der von vornherein davon ausgeht, dass mit mir etwas nicht stimmt.“

Im Rechteck um den Boxring herum sitzend, hat das Publikum in Oldenburg ein intensives Kammerspiel erlebt. Trotz der satirischen Komik verdüstert sich die Atmosphäre zusehends. Man braucht das Grauen hinter den Türen, das sich die Sozialarbeiterinnen angstvoll ausmalen, nicht vorgeführt kriegen, um eine Gänsehaut zu bekommen.

Oldenburger Staatstheater, www.staatstheater.de