Getroffen wird sich in der Mitte

Regierung und Opposition haben sich geeinigt – aber was bedeutet das eigentlich? Dies war gestern mitunter undeutlich. Die Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses trafen sich daher am Nachmittag erneut, um die nächtlichen Kompromisse zu interpretieren. Gleichzeitig rechnete das Finanzministerium „unter Hochdruck“ nach, was die Beschlüsse nun für die Steuerzahler bedeuten. Eine erste Bilanz:

Zumutbarkeit von Arbeit: Für Langzeitarbeitslose soll künftig jede legale Arbeit zumutbar sein. Der Passus, dass zumindest ein „ortsüblicher Lohn“ bezahlt werden müsse, entfiel. Diese Mindestabsicherung hatten Grüne und SPD-Linke mühsam gegen Kanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement durchgesetzt. Eine Untergrenze für „Dumpinglöhne“ bietet somit nur noch der schon existierende Passus im Sozialgesetzbuch, wonach Niedriglöhne den geltenden Tarif nicht um mehr als 30 Prozent unterschreiten dürfen.

In der Praxis könnte dies bedeuten, dass vielen Erwerblosen Jobs angeboten werden, womit sie kaum mehr verdienen würden, als sie an Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder demnächst Arbeitslosengeld II bekommen. Erwerbsloseninititiativen berichten von Betroffenen, etwa Handwerkern, denen Stellen mit einem Bruttostundenlohn von 5,70 Euro vermittelt werden. Dazu ein Rechenbeispiel: Ein Imbisshelfer, der beispielsweise fünf Euro die Stunde verdient und 35 Stunden in der Woche arbeitet, kommt im Monat auf rund 750 Euro brutto. Das wäre etwa ein Netto von 600 Euro – und würde damit etwa der Summe entsprechen, die dieser Mann an Sozialhilfe bekäme.

Kündigungsschutz verschlechtert: Der Kündigungsschutz wird gelockert, auch hier hat sich die Union durchgesetzt. Der allgemeine Kündigungsschutz gilt künftig nur noch für Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten, bislang lag der Schwellenwert bei fünf Mitarbeitern. Diese Lockerung betrifft allerdings nur Neueinstellungen, nicht bereits bestehende Arbeitsverhältnisse. Wer beispielsweise in einem Betrieb mit acht Mitarbeitern frisch anheuert, genießt fortan nicht mehr den allgemeinen Kündigungsschutz. Von bereits Beschäftigten können sich die Unternehmer jedoch nicht ohne weiteres trennen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) schätzt, dass in den nächsten Jahren rund 2,8 Millionen Menschen aus dem Kündigungsschutz herausfallen werden.

Tarifautonomie gerettet: An der Tarifautonomie wird entgegen der Unionswünsche zunächst nichts geändert. Die Tarifpartner werden unverbindlich aufgerufen, innerhalb eines Jahres selbst eine Regelung zu finden, damit Betriebe von den Tarifverträgen abweichen können (siehe Interview Seite 5).

Erhöhung der Tabaksteuer: Sie fällt geringer aus, als von den Gesundheitsreformern geplant. Statt 1,5 Cent wird die Steuer nun nur um insgesamt 1,2 Cent pro Fluppe ansteigen – und zwar erst ab April. Vielleicht wird es aber auch schon März. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) glaubt dennoch, dass sie ihre Gesundheitsreform in vollem Umfang finanzieren kann – und überlässt es Finanzminister Hans Eichel (SPD), die verabredeten Steuermilliarden zusammenzusammeln.

Doch Schmidts Kalkül ist brüchig. Eichel hat die Tabaksteuer nie gewollt – genauso wenig wie die Finanzpolitiker von SPD und Grünen. Nur deswegen haben sie auch zugestimmt, die Tabaksteuer im Vermittlungsausschuss zu verhandeln, obwohl sie gar nicht durch den Bundesrat gemusst hätte. So ließ sich ein Zugeständnis an die Tabaklobby als Kompromiss mit der Union verbrämen. Die Zigarettenkonzerne fürchten, dass allzu viele Kinder ab zehn Jahren zukünftig aufs Rauchen verzichten könnten, wenn die Steuern auf Tabak zu steil ansteigen.

Das Arbeitslosengeld II kommt später: Wahrscheinlich werden Arbeitslosen- und Sozialhilfe erst ab 1. Januar 2005 zusammengelegt. Bisher wurde der 1. Juli 2004 angepeilt. Doch „Hartz IV“ ist so kompliziert, dass Bund, Länder und Kommunen noch ein Jahr brauchen, um die Reform praktisch umzusetzen. Für die Betroffenen bedeutet das: Die Arbeitslosenhilfe wird im nächsten Jahr in der alten Höhe weitergezahlt. Erst ab 2005 wird sie auf das Niveau der Sozialhilfe abgesenkt.

Zuständig für die Langzeitarbeitslosen bleibt die Bundesanstalt für Arbeit. Dennoch haben sich die Union und namentlich Hessens Ministerpräsident Roland Koch mit der Forderung nach „Kommunalisierung“ so weit durchgesetzt, dass es ein „Optionsmodell“ geben soll. Demnach können Kommunen wählen, ob sie für die Langzeitarbeitslosen zuständig sein wollen. Die Städte und Gemeinden waren gestern erleichtert. Sie hatten sich immer durch das Ansinnen überfordert gefühlt, vermehrt Langzeitsarbeitslose zu betreuen. Falls sich eine Kommune dennoch dafür entscheidet, soll sie eine „Fallpauschale“ erhalten. Deren Höhe steht noch nicht fest. Ein Weisungsrecht der Länder soll es nicht geben: Die Städte gingen jedenfalls gestern davon aus, dass sie zu nichts gezwungen werden könnten. Koch hätte also keine Möglichkeit, sein Lieblingsmodell wenigstens in Hessen flächendeckend durchzusetzen.

Die Steuerreform wird teilweise vorgezogen: Der Eingangssteuersatz fällt 2004 von jetzt 19,9 auf dann 16 Prozent, der Spitzensteuersatz sinkt von momentan 48 auf 45 Prozent. Der Grundfreibetrag steigt auf 7.664 Euro. Ursprünglich wollte die Regierung die Bürger noch stärker entlasten: Der Spitzensteuersatz sollte nur noch 42 Prozent betragen, der Eingangssteuersatz bei 15 Prozent liegen. Diese Senkungen sind nun erst ab 2005 vorgesehen.

Hätte sich die Regierung durchgesetzt, wären die Bürger insgesamt um mehr als 22 Milliarden Euro entlastet worden. 15,6 Milliarden Euro hätten sie durch die vorgezogene dritte Stufe der Steuerreform erhalten – weitere 7 Milliarden bringt die zweite Stufe. Sie ist längst Gesetz und wurde wegen der Elbeflut um ein Jahr verschoben.

Durch den Kompromiss im Vermittlungsausschuss fallen die Steuergeschenke in diesem Jahr etwas sparsamer aus: Die Bürger werden insgesamt um 14,8 Milliarden Euro entlastet. Wie viel „Familie Mustermann“ jedoch konkret spart – das konnte das Finanzministerium gestern noch nicht beziffern. An den Steuertabellen wird noch gerechnet.

Neuverschuldung begrenzt: Regierung und Opposition haben sich darauf geeinigt, dass die Steuerausfälle nur zu einem knappen Viertel durch Kredite finanziert werden dürfen. Daher soll bei den Subventionen gespart werden.

Pendlerpauschale reduziert: Sie wird auf 30 Cent je Kilometer Arbeitsweg gekürzt. Bisher beträgt sie 36 Cent für die ersten zehn und 40 Cent für jeden weiteren Kilometer. Dies bringt insgesamt 400 Millionen Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen. Allerdings hatte die Regierung die Pendlerpauschale ursprünglich auf 15 Cent pro Kilometer zusammenkürzen wollen. Dieser Subventionsabbau ist auch schon fest eingeplant, um den Haushalt 2004 auszugleichen. Wie sich diese Lücke wieder schließen ließe – darüber konnte das Finanzministerium gestern keine Angaben machen.

Eigenheimzulage reduziert: Auf Betreiben der Union wird sie nun nicht gänzlich abgeschafft. Momentan kostet sie den Staat jährlich etwa 11 Milliarden Euro. Dieser Betrag soll langfristig um insgesamt 30 Prozent gesenkt werden. Beantragen kann sie künftig, wer in einem Zweijahreszeitraum jährlich nicht mehr als 70.000 Euro verdient hat. Bei Ehepaaren verdoppelt sich der Betrag. Pro Kind steigt die Einkommensfreigrenze um 30.000 Euro. Zudem wird eine Kinderzulage von 800 Euro gewährt.

Kompromiss der Länderchefs Koch (CDU) und Steinbrück (SPD) übernommen: Die Finanzhilfen sollen in den nächsten drei Jahren jährlich um vier Prozent zurückgefahren werden. Allerdings wurde nicht konkret benannt, welche Subventionen reduziert werden könnten. Die Bahn soll von den Kürzungen nicht betroffen sein, sagte ein Sprecher des Finanzministeriums.

Privatisierungen: Der Staat verkauft erneut Bundesvermögen. Dies soll 5,3 Milliarden Euro erbringen. Denkbar wäre, Telekom- oder Postaktien abzustoßen. Auch sind diverse Flughäfen im Gespräch. Allerdings wollte sich das Finanzministerium gestern nicht auf konkrete Pläne festlegen. Man werde die Objekte „im Zuge des nächsten Jahres definieren“. Denn der Bund will vermeiden, dass er mit seinen Aktien die Börsen überschwemmt. Man würde den Verkauf „marktgerecht und marktschonend“ gestalten.

Geld für die Gemeinden: Bei den Gemeindefinanzen ist noch vieles unklar. So sollten die Kommunen ursprünglich dadurch entlastet werden, dass ihre erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger künftig auch das Arbeitslosengeld II erhalten und also weitgehend durch den Bund finanziert werden. Dieser Plan ist ja nun höchstwahrscheinlich aufgeschoben bis zum Januar 2005. Sicher ist jedoch, dass die Kommunen 2,5 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen sollen. So wurde die Gewerbesteuerumlage gesenkt – Städte und Gemeinen müssen künftig weniger von ihren Gewerbesteuereinkünften an den Bund abgeben. Allerdings konnten sich die Kommunen bisher nicht mit ihrem Plan durchsetzen, die Freiberufler in eine Gemeindewirtschaftssteuer einzubeziehen.

BD, UWI, UH