: Bunt geht auch
TANZ IN DEN MAI Punks am Boxi, Neonazis und linke Demonstranten in Köpenick, Prekäre in Mitte, Massen und Randale in Kreuzberg: Das Programm war voll, lustig und – teilweise brutal
WALPURGISNACHT
19.14 Uhr, Boxhagener/Ecke Gärtnerstr.: Die Zufahrt zum Boxhagener Platz ist abgeriegelt, nur Fußgänger und Radler kommen noch durch. Zwei Polizisten stecken einigen Kindern Gummibärchen aus ihrem Vorrat zu.
19.16 Uhr, Boxhagener Platz: Der Platz ist abgesperrt, an den Durchgängen kontrollieren Polizisten Taschen auf Glasflaschen.
19.20 Uhr, Bernauer/Ecke Oderberger Str.: Gleiches Bild am Mauerpark, auch hier herrscht Flaschenverbot. Polizisten kontrollieren jeden, der in den Park will. Daneben steht ein Leergutsammler mit zwei großen blauen Ikea-Tüten. „Bisher hält sich der Andrang in Grenzen“, sagt er etwas traurig. Dabei sind die Tüten schon halb voll.
19.26 Uhr, Grünberger Str.: Ein Punker bietet seinem Dalmatiner einen Schluck Bier aus der Flasche an. Der Hund lehnt ab.
19.28 Uhr, Boxhagener Platz: Auf dem Platz stehen nicht weniger als 47 Kleinbusse der Polizei.
19.31 Uhr, Grünberger Str./Gabriel-Max-Str.: Auf der Bühne spielt ein Punkband. Plötzlich wird die Musik unterbrochen, ein Redner tritt auf. Er kritisiert das kapitalistische Bildungssystem. Keiner hört zu. Nach fünf Minuten wird er unterbrochen: Eine junge Mutter sucht ihre Tochter, Lina möge sich bitte an der Bühne einfinden. Der Redner verliert den Faden und endet mit dem Satz: „Unsere Zukunft ist unsere Zukunft.“
21.15, Mauerpark: Mehrere hundert Menschen feiern wie im Vorjahr unter dem Flutlicht des benachbarten Jahn-Stadions.
22.46 Uhr, Grünberger Str.: Drei Mitglieder der ÜberPartei entfalten ein Transparent mit der Aufschrift „Eine mögliche Welt ist anders“, spontan bildet sich hinter ihnen ein Demozug. Polizisten setzen ihre Helme auf und sprinten hinterher. Ein Mann am Straßenrand sagt kauend: „Herrlich: ’ne Curry essen und dabei so ’ne Show.“
22.59 Uhr, Boxhagener Str.: Die ersten Glasflaschen fliegen – worauf sie zielen, ist nicht zu erkennen. Demonstranten und Wagen der Polizei blockieren die Kreuzung zur Warschauer Straße. Kurz darauf hat die Polizei die Demonstranten eingekesselt.
23.22 Uhr, Boxhagener/Ecke Warschauer Str.: Die Stimmung innerhalb der Polizeikette eskaliert, ein Punker wirft eine Flasche, sofort stürzen sich an die zehn Beamte in Kampfmontur auf ihn. Bereits am Boden, versucht der Mann noch zu fliehen, seine Freundin steht daneben und feuert ihn lautstark an.
23.45 Uhr, Boxhagener Platz/Grünberger Str.: Die Polizei riegelt die Grünberger Straße in Richtung Warschauer Straße ab. Besucher, die dem Demozug folgen wollten, sind empört.
2.30 Uhr: Die Polizei spricht von deutlich weniger Krawall als im Vorjahr. 58 Randalierer wurden festgenommen, 48 Beamte verletzt. Am Mauerpark blieb es ruhig.
1. MAI
8 Uhr, Prinzenbad Kreuzberg: Raus zum 1. Mai? Zunächst mal rein ins Wasser! Aber mit dem Anbaden wird es erst mal nix. Die Chloranlage ist defekt. Die enttäuschten Gäste trösten sich in der Cafeteria mit Sekt und Kuchen. Als man sich aufmacht zu gehen, kommt doch noch die ersehnte Ansage: „Bahn frei!“
9.32 Uhr, Straße des 17. Juni: Auf der Demo des DGB zischen ein paar Gewerkschaftsmitglieder ihr erstes Bier. Riesige Holzkohlesäcke werden für die Grillstände angeschleppt.
10.20 Uhr, Bahnhof Köpenick: Mehrere hundert Antifas besetzen den S-Bahnhof Köpenick, an dem viele NPD-Anhänger auf dem Weg zu ihrem Fest erwartet werden. Rund 30 Teilnehmer einer Sitzblockade werden von der Polizei weggetragen.
11.10 Uhr, Bühne vor dem S-Bahnhof Köpenick: Abgeordnetenhauspräsident Walter Momper (SPD) lobt den zivilen Ungehorsam, der die Anreise von NPDlern erschwert habe.
11.50 Uhr, Brandenburger Tor: Ein Sprecher sagt, mittlerweile seien 20.000 Menschen bei der DGB-Kundgebung. Die Ver.di-Jugend und weitere Fahnenträger laufen ein, auf Transparenten wird der Mindestlohn gefordert. Ein Sprecher grüßt speziell die Türkei, da dort der 1. Mai erstmals Feiertag sei. Viele Touristen mit Bratwurst bestaunen die DGB-Demonstranten. Die rufen: „Hoch die internationale Solidarität!“
11.55 Uhr, Bahnhof Köpenick: Mittagszeit. Der Thai-Imbiss vor dem Bahnhof macht das Geschäft seines Lebens. Die Demonstranten stehen Schlange zum Nudelfassen. Auf die Anfrage einer Journalistin sagt der viel beschäftigte Betreiber nur: „Hinten anstellen!“
12.15 Uhr, Straße des 17. Juni: Der IG-Metall-Stand „Gemeinsam für ein gutes Leben“ lockt viele, weil es da einen Fragebogen auszufüllen gibt. Ein Gewerkschaftler an seinem Stand entschuldigt sich für die „komischen vorgegebenen Antworten“. Die Kampagne sei „von oben“ organisiert worden.
13.30 Uhr, Bebelplatz, Mitte: Studentin Berit bemalt ein Plakat mit dem Spruch „We all scream for icecream“. Bei schönem Wetter sollte man nicht zu Hause bleiben, begründet sie ihre Teilnahme am Mayday.
13.35 Uhr, Brandenburger Tor: Das zweistündige Redenprogramm bei der DGB-Kundgebung ist durch. Jetzt spielt die Band „Die Busfahrer“.
14.20 Uhr, Oranienplatz: Mit über einer Stunde Verspätung startet die erste „revolutionäre Mai-Demo“. Der von türkischen, maoistisch-leninistischen Gruppen organisierte Aufzug hatte lange fast gar keine Teilnehmer gefunden, was selbst die Polizei verwunderte. Nun ziehen 300 Demonstranten los.
15 Uhr, Sonnenallee: Die maoistische revolutionäre Mai-Demo zieht durch Neukölln. Ein Araber vor einem Wasserpfeifencafé sagt, er fände das ganz okay mit der internationalen Revolution. „Aber die Demonstranten hier sind ja alles Kreuzberger, das geht uns hier nichts an.“
15.20 Uhr, Bebelplatz: Knapp zwei Stunden nach dem offiziellen Demo-Start laufen tausende Mayday-Teilnehmer in Richtung Finanzministerium los. Die Stimmung ist ausgelassen. Die von den Paradisten bereitgestellten Pappsprechblasen zum Ausfüllen sind gut angekommen. „Fight for your right, stop gentrification“, steht auf einer. Aber auch Slogans wie „Ich möchte ein Gummibärchen sein“ sind zu sehen.
15.55 Uhr, Oranienstraße: Eine braune Bordeauxdogge liegt mitten im Trubel des MyFestes schlafend vor einem Caipirinhastand. Neben ihr einen Gelddose mit dem Schild: „Einmal noch in Puff“. Münzen im Wert von etwa 5 Euro haben sich eingefunden. Der Hund sei schon sehr alt, sagt die Besitzerin, diesen Wunsch wolle sie ihm noch erfüllen.
16.17 Uhr, Bundesfinanzministerium, Wilhelmstraße: Grauer Granit, das war einmal. Die Fassade des Ministeriums ist nun bunt gesprenkelt. Teilnehmer der Mayday-Parade haben sie mit Farbeiern beworfen.
16.20 Uhr, Kottbusser Tor: Schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, weiße Aufschrift: „Antifaschist“. In diesem Outfit flaniert ein junger Mann gepierct und mit Basecap durch die Menge. Aus seiner rechten hinteren Hosentasche hängen lässig zwei Lederhandschuhe heraus.
17.15 Uhr, Naunynstraße: Vor der Hiphop-Bühne des MyFestes stehen zwei Polizisten, sichtlich lärmgestresst. Der Beamte Dietz – laut Namensschild – trägt auf der Schulter vier Sterne, Herr Reimann drei Sterne. Sie brüllen sich gegenseitig laut ins Ohr. Überall ist es deutlich voller als im Vorjahr. Es wird viel getrunken. Ein junger Mann ist auf der Bordsteinkante eingeschlafen. Ein anderer torkelt einer leicht bekleideten Frau entgegen und brüllt: „Mensch, bist du geil!“
17.40 Uhr, Moritzplatz: Eigentlich versuchen die Macher der Mayday-Parade, ihre Abschlussreden zu halten. Doch die Techno-Musik ist zu laut: Niemand hört zu, alle tanzen.
18.10 Uhr, Kottbusser Tor: Es kommt Bewegung in die Menge. Zunehmend begeben sich die Massen Richtung Kottbusser Straße, wo sich die nächste „Revolutionäre 1. Mai-Demonstration“ zum Abmarsch Richtung Neukölln formiert. Die Veranstalter schätzen die Menge auf 10.000 Teilnehmer.
19.10 Uhr, Mariannen/Ecke Skalitzer Str.: Schon wenige Meter nach dem Start der Demo fliegen Steine. Die zum großen Teil vermummten Demonstranten werfen Steine auf Polizisten am Straßenrand. Die halten sich vorerst noch zurück.
19.25 Uhr, Manteuffel/Ecke Muskauer Str.: Die Polizei ist in die Demo vorgedrungen. Es fliegen Flaschen und Steine. Großes Durcheinander.
19.46 Uhr, Mariannenstraße: Wer jetzt von hier zum Oranienplatz will, muss einen Umweg fahren. In Kreuzberg ist kein Durchkommen mehr – wegen des MyFestes, nicht wegen der Demo.
19.48 Uhr, Kottbusser Tor: Es kommt zu Scharmützeln. Zehn Polizisten jagen eine Gruppe junger Türken über den Platz. Letztere rennen durch ein paar arabischstämmige Mütter mit Kinderwagen. Großes Kreischen.
19.50 Uhr, Lausitzer Platz: Die Stimmung in der Demo ist wieder gelassener. Ein Sprecher vom Bündnis Schülerstreik fordert: „Kein Leistungskonkurrenzdruck in der Schule“.
20.01 Uhr, Lausitzer/Ecke Wiener Straße: Auf dem Dach eines Hauses taucht die Plüschfigur Pink Rabbit auf und winkt in die Menge. Kleiner Applaus aus der vorbeiziehenden Demo. Maxim aus Prenzlauer Berg fragt laut: „Ist das ein politisches Statement gegen die Schweinegrippe?“
20.35 Uhr, Ohlauer Straße: Ein Polizeiwagen vom Typ Opel steht am Straßenrand. Eine Augenzeugin berichtet den dabeistehenden Beamten, dass ein vermummter Demonstrant hinter dem wegfahrenden Wagen hergelaufen sei und mit einem Baseballschläger Heck- und Seitenfenster eingeschlagen habe. Der Fahrer steht unter Schock, meldet ein Beamter per Funk der Einsatzzentrale.
20.45 Uhr, Kottbusser Tor: Die Demonstration ist vorzeitig beendet worden; die Veranstalter erklären, die Polizei habe den Protestzug angegriffen. Die Beamten kontern, die Aggression sei von der Gegenseite ausgegangen. Nachdem die Einsatzkräfte mit Steinen und Flaschen angegriffen worden sind, jagen sie kleine Gruppen von Demonstranten über den Kotti. Die Lage ist chaotisch.
21.20 Uhr, Kottbusser Tor: Die Polizei versucht zu erreichen, dass die Bands auf der Bühne nicht mehr spielen. In den Nebenstraße fliegen weiter Steine.
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