Zerquetschte Phantasie

Dea Lohers „Die Schere“ am Thalia in der Gaußstraße

Dies ist das Protokoll einer Machtlosigkeit. Die Genese eines Pragmatismus, der Pore für Pore die Phantasie zersticht, bis tatsächlich kein Ausweg bleibt. Eine tragische Entwicklungsgeschichte kindlicher Erkenntnis präsentiert Dea Loher in ihrer Erzählung Die Schere, deren Bühnenfassung am Freitag am Thalia in der Gaußstraße Premiere hatte. In weiß tapezierte Bühne gesetzte Solistin: Paula Dombrowski.

Von bis zum Autismus reichender Isolation spricht der karge, in seiner Feingliedrigkeit an Jon Fosse heranreichende Text, dessen Geschichte „keine ist“; auch „die Stimme“ kann wahlweise dem auktorialen Erzähler oder den Protagonisten zugeordnet werden. Aber das ist auch nicht so wichtig, denn letztlich ist alles eins in der Welt des namenlosen Neunjährigen. Eine merkwürdige Dialektik angesichts der Tatsache, dass das Kind, das mit dem arbeitslos-trunkenen Vater und der lebenslügend-berufstätigen Mutter lebt, entschieden hat, dass es allein auf der Welt und Kontakt nicht möglich ist: Verzweifelt möchte es zum Beispiel „Happy-Birthday“-Spruchbänder malen und dazu ein kitschiges „Amazing Grace“ anstimmen. Aber es kann nicht gleichzeitig singen und schreiben; die Motorik des Kindes fügt sich so wenig zusammen wie Außen- und Innenwelt.

„Double bind“ wäre ein zu zarter Begriff für die Kluft, die sich dem Kind öffnet: „Verständnis ist nicht möglich“ hat es nach Analyse seines Mikrokosmos beschlossen. Und natürlich sind seine Folgerungen infolge der viel zu kleinen „Probandengruppe Familie“ schief. Doch in sich ist diese Logik stimmig – ein weiterer Kunstgriff der Autorin, die so unsentimental subtile Ver-rückungen sichtbar macht. Und en passant eine soziale Situation nachzeichnet, die ein fast archaisches Blutopfer fordert. Denn wie soll man es dem scharfen Geist des Kindes verdenken, dass sein Urteil schließlich auf „Selbstauslöschung“ lautet?

Petra Schellen

Nächste Vorstellung: 8.12., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße