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: HELMUT HÖGE über Neurosibirsk

Die Wodka-Kulaken vom Balalaika-See

Sibirien ist ein riesiges Zeitreservoir, meinte Heiner Müller. Dies gilt vor allem für deutsche TV-Produktionen: Noch jeder Moskaukorrespondent hat zu Weihnachten eine mehrteilige Sendung über Sibirien produziert – inklusive Buch. Die Amis sind aber auch fasziniert von Sibirien – und die Hauptkunden der russischen Veranstalter für „Gulag Travel Tours“.

Sogar das französische Arbeitsamt finanzierte einem Arbeitslosen 2001 eine filmische Reise von Jakutsk nach Kolyma. Aus Deutschland düsen vor allem Künstler im Kulturauftrag durch Sibirien. Hier gilt es, den einstigen Horrorort systematisch umzudeuten zu einer positiven Utopie. Auf dem Höhepunkt der Kampagne erfand ein Künstler für eine Berliner Ausstellung sogar ein neues Sibirienvolk.

Den Höhepunkt aller Gruselgeschichten von dort bildete in den Sechzigerjahren die „Straßenfeger“-TV-Serie „So weit die Füße tragen“. Den Niedergang erlebte dieses Genre Anfang der Neunzigerjahre mit dem Roman „Siberian Light“, in dem ein Erdölingenieur mit Hilfe von Greenpeace und Internet einem US-Konzern auf die Spur kommt, der in den Gulag-Resten unverbesserliche US-Gefangene, vornehmlich Schwarze, unterbringt.

Tatsächlich gibt es bereits einige von Deutschen geleitete Reha-Camps in Sibirien, in denen Neonazis „umgeschult“ werden. Außerdem jede Menge deutscher Missionsstationen, in denen durch den Kommunismus wieder verheidnischten „Sibirjaken“ rechristianisiert werden.

Da es in einigen Teilen Sibiriens einen großen Arbeitskräftemangel gibt, hat der Gouverneur des Oblast Swerdlow in Berlin unlängst alle Russlanddeutschen, die hier keine Arbeit finden, aufgefordert, nach Sibirien zu ziehen – sie wären dort hochwillkommen. 56.000 haben sich angeblich bereits bei ihm gemeldet. Auch die EU wird eines Tages wohl darauf kommen, alle Arbeitslosen nach Sibirien zu expedieren – mit einer besonders geförderten „Weißen Ich-AG“ womöglich, die bei Bedarf in eine Festanstellung auf einer sibirischen EU-Großbaustelle umgewandelt werden kann.

Das ZDF strahlt heuer dazu zur besten Sendezeit und rechtzeitig zu Weihnachten eine Art „Big Brother in Sibirien“ aus. Dafür hat man zwei Ehepaare aus Bayern und aus Sachsen auf eine Insel im Baikalsee – mitten in ein Dorf – ausgesetzt. Sie müssen dort überleben, sind hierfür aber gut ausgerüstet worden: von einer Kuh über eine Axt bis zum Deutsch-Sibirischen Wörterbuch. Eines der Ehepaare hat neben der Selbstversorgung noch Jobs im Dorf angenommen: Er arbeitet als Schreiner und sie, die gelernte Krankenschwester, veranstaltet für Kinder Deutschkurse, den Erwachsenen bietet sie Massagen an.

Die beiden sind die Pioniere des neoliberalen Medienzeitalters. „Geh nach Sibirien, junger Mann, dort wachsen dir die Gürkchen ins Maul,“ riet Maxim Gorki bereits 1906 einem jungen Arbeitslosen – und veröffentlichte das Gespräch mit ihm anschließend. In Deutschland dagegen ließ Carolin Reiber in einer ZDF-Seniorenquizsendung noch den Namen „Balalaika-See“ durchgehen – als Heimat des stets gut gelaunten Chors der Wodka-Kulaken!?

Da war die deutsche Linke schon mal näher dran: Anfang der Siebzigerjahre veröffentlichten im Osten Landolf Scherzer und im Westen Peter Schütt ihre Sibirienreiseberichte: „Nahaufnahmen“ und „Ab nach Sibirien“. Beide enden merkwürdigerweise mit einem Gespräch zwischen dem Autor und einem Baikal-Fisch. Damals hatte der „Fischfreund“ Breschnew gerade die ökologische Rettung des Sees verfügt. Der Westrenegat Peter Schütt distanzierte sich später von seinem Fischdialog am Baikal, nachdem Helmut Kohl und Boris Jelzin sich dort getroffen und ein Nachsaunabad genommen hatten.