Frust hinter den Fassaden

Arbeiter schuften sechzehn Stunden am Stück, die Architektin kriegt gerade mal fünfzehn Tage Urlaub, Firmen unterschlagen Lohn – die Sitten im Baugewerbe sind roh. Eine Zustandsbeschreibung

von MARINA MAI

Vor drei Wochen hatte Jörg A. sein letztes freies Wochenende. Für den Bauingenieur, der in einem kleinen Projektierungsbüro tätig ist, gehört Wochenendarbeit seit Jahren zur Normalität. Einen bis eineinhalb Tage pro Wochenende sitzt er im Büro und fertigt Rechnungen. Unentgeltlich. Seinem Chef ist er da gar nicht böse. „Der ist doch ein armes Schwein wie ich“, sagt er. „Und wenn die Firma Konkurs geht, bekommt er nicht mal Arbeitslosengeld.“ Wenn man die Preise bei den Ausschreibungen nicht unterbietet, so Jörg A., bekommt man den Auftrag nicht. Er weiß, wovon er spricht. In seinem Büro ist er für Bewerbungen auf Ausschreibungen zuständig.

Im Berliner Bauhauptgewerbe sind 16.209 Menschen arbeitslos gemeldet. Das ist die Zahl von Oktober, sie ergibt eine Arbeitslosenquote von 52 Prozent. Im Winter schätzt die zuständige Gewerkschaft die Rate auf 60 Prozent. Die Zahl stagniert – von jahreszeitlich bedingten Schwankungen abgesehen – seit zwei Jahren auf hohem Niveau.

Die Ursache der hohen Arbeitslosigkeit sieht Norbert Nickel von der Fachgemeinschaft Bau, dem Arbeitgeberverband der kleinen Bauunternehmen für Berlin und Brandenburg, in fehlerhaften Weichenstellungen nach der deutschen Einheit. „Da kamen Baufirmen aus ganz Europa nach Berlin und wollten etwas von dem Boom abhaben. Jeder riss sich um Prestigeprojekt in Berlin.“ Sie brachten ihre Arbeitnehmer mit. Oder die kamen allein nach Berlin und verdingten sich zu Dumpinglöhnen von 2 Mark pro Stunde auf hiesigen Baustellen. 1993 war das Jahr des höchsten Bauvolumens in Berlin.

Die auswärtigen Baufirmen hätten aber inzwischen in Berlin Fuß gefasst und wüssten, wie man sich hier um Bauaufträge bewirbt. Die Überkapazität bei sinkenden Auftragszahlen führe zu hoher Arbeitslosigkeit und Sozialdumping, so Nickel. Auch der Regierungsumzug ist an der hiesigen Bauwirtschaft vorbeigegangen. Nickel: „Den Zuschlag bekamen die großen Baufirmen aus Westdeutschland, die Subunternehmen aus dem Ausland beschäftigten.“

Das sieht Rainer Knerler, Vorsitzender der Baugewerkschaft für Berlin und Brandenburg, anders. „Wir haben in Berlin immer noch genug Bauvolumen, um alle Berliner Bauarbeiter beschäftigen zu können. Das Problem ist, dass sich die Arbeitgeber mit den Preisen gnadenlos unterbieten. Das funktioniert dann nur noch mit Wanderarbeitern, die nicht zu hiesigen Sozialstandards arbeiten.“ Manche Baufirmen, so Knerler, haben keinen einzigen Bauarbeiter mehr, sondern arbeiten ausschließlich mit Verleiharbeitern. Unter den Gewerkschaftsmitgliedern seien es gerade die Zuwanderer der ersten Generation aus der Türkei und Jugoslawien, die mit Unverständnis und Fremdenfeindlichkeit reagieren. „Die können am wenigsten verstehen, warum die Polen und Portugiesen nicht wie sie selbst einst die deutschen Sozialstandards einfordern.“

Dietmar Witt von der Sozialkasse der Berliner Bauwirtschaft hätte den heutigen Stand der Arbeitslosigkeit vor Jahren nicht für möglich gehalten. „Da dachte ich: Entweder der Trend dreht sich oder die Leute lassen sich das nicht länger gefallen.“ Aber es blieb ruhig. „Da haben wohl viele individuelle Lösungen für sich gefunden.“ Damit meint er Schwarzarbeit, die im Baugewerbe in Berlin und Brandenburg nach amtlichen Schätzungen bei 30 Prozent liegen soll. Das betrifft nicht nur Großbaustellen, sondern auch Einfamilienhäuser privater Bauherren.

Die Schwarzarbeit, die Jörg A. an den Wochenenden leistet, um seinen Arbeitsplatz zu retten, ist damit noch gar nicht eingerechnet. Denn er hat immerhin einen regulären Arbeitsvertrag.

Sozialdumping hat viele Facetten, erzählt Dieter Pienkny vom DGB-Landesverband. Dass für dasselbe Geld immer länger gearbeitet wird, gehört dazu. Da greifen dann keine gesetzlichen Mindestlöhne und Tarife, die das Land bei öffentlichen Ausschreibungen garantiert haben will. Pienkny: „Bei mir hat kürzlich eine Architektin angerufen und fragte, ob der gesetzliche Mindesturlaub von 21 Urlaubstagen für sie gilt.“ Ihr Chef wollte ihr nur 15 Urlaubstage genehmigen.

Für Jan Zyankiewicz vom polnischen Sozialrat, oft der einzigen Anlaufstelle für betrogene polnische Bauarbeiter, würde das zu den harmlosen Fällen gehören. Er kennt Fälle, wo Bauarbeiter 14 bis 16 Stunden hintereinander arbeiten müssen und keine Überstunden bezahlt bekommen. Oder Schwarzarbeiter werden per mündlichen Vertrag für einen Monat verpflichtet. Und nach dreieinhalb Wochen schickt sie der Auftraggeber ohne Lohn nach Hause. „Die Arbeitgeber wissen, dass viele Polen unerlaubt hier arbeiten, und nutzen ihre prekäre Lage aus“, sagt Zyankiewicz. Inzwischen empfiehlt der Sozialrat Betroffenen, den Lohn vor Gericht einzuklagen. „Die Klagen haben Erfolg, aber die Arbeitnehmer bekommen ein Einreiseverbot für Deutschland wegen Schwarzarbeit“, so Zyankiewicz. Und die Sozialberater bekamen eine Klage eines Bauunternehmens wegen unerlaubter Rechtsberatung.

In den Gewerkschaften hat es in den letzten zehn Jahren einen Kulturwechsel zur Thematik ausländischer Leiharbeiter auf deutschen Baustellen gegeben. Die Zeiten, als Gewerkschafter die Lösung darin sahen, die Polizei bei vermuteter Schwarzarbeit zu rufen, sind wenige Monate vor der EU-Osterweiterung längst vorbei. Die Baugewerkschaften aus Deutschland und Portugal sowie aus Deutschland und Polen ermöglichen Doppelmitgliedschaften, um Arbeitnehmern grenzüberschreitend den gewerkschaftlichen Schutz zu ermöglichen. Der DGB unterhält in Berlin eine Ausländerberatungsstelle, speziell für Nichtmitglieder. Dass sich die deutschen Gewerkschaften Zuwanderern und deregulierten Beschäftigungsverhältnissen stellen, ist für sie eine Existenzfrage. Denn inzwischen wird die regulierte Beschäftigung auf Lebenszeit immer mehr zur Ausnahme, Zeitverträge, Leiharbeit, Lohndumping, Scheinselbstständigkeit zur Regel. Wollen die Gewerkschaften ihren Mitgliederverlust aufhalten, müssen sie unter diesen Beschäftigten Fuß fassen.

Im September hat der DGB entlang der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Grenze das Grenzgängerprojekt „Grips“ eröffnet, bezahlt mit EU-Mitteln. Es will durch Information die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Sozialsystemen sozial verträglicher gestalten, Konkurrenz zwischen Deutschen, Polen und Tschechen entgegenwirken und die Entwicklungspotenziale im Grenzraum durch die EU-Erweiterung erschließen. „Ich habe die Hoffnung, dass durch die Gelder der EU, die dann nach Polen fließen, die Arbeitskräfte dort gebunden werden“, sagt Dietmar Witt von der Sozialkasse der Berliner Bauwirtschaft. „Und vielleicht finden dann mehr Deutsche eine Beschäftigung in Polen.“