engel im haus von ILKE S. PRICK
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„Keck-keck“, machte er, gleich nachdem er geklingelt hatte und noch bevor wir uns richtig vorstellen konnten. Zeit, mich zu wundern, blieb mir darum kaum. Auch wenn es nicht so oft passiert, dass ein Engel bei mir vor der Tür steht, trotz Advent und all dem Kram. „Keck-keck“, machte er wieder, denn er hatte einen furchtbaren Schnupfen.

Normalerweise ist man ja erst mal erschrocken, wenn einem so ein Engel mitten ins Gesicht niest. Wobei: Mitten ins Gesicht hat er mir gar nicht geniest, denn er war keiner von dieser riesigen Erzengelsorte, die einem beim Niesen lässig auf den Kopf spucken können. Nein, meiner war eine kleinere Ausgabe von der Halleluja-preiset-den-Herrn-Front. Wohl genährt, das muss ich zugeben, aber mit einem ziemlich schmalen Gesicht. Nicht mit so rosa Pausbacken und blonden Locken, sondern sehr, sehr blass. Beinahe weiß. Natürlich hatte ich Mitleid und sagte: „Ach, komm doch rein!“ Was sollte ich sonst tun? So einen kleinen, blassen Engel kann man doch nicht einfach vor der Tür stehen lassen. Nein, sicher nicht.

Also ließ ich ihn rein, und er nieste weiter. Obwohl ich mir inzwischen nicht mehr ganz so sicher war, ob er wirklich nieste. Es hörte sich eher an wie ein leicht verschnupftes Näseln. Also fast wie ein Schnattern. Ich weiß es nicht. Man hört Engel ja so selten reden in der heutigen Zeit. Mit einem Seufzer setzte er sich an meinen Küchentisch und fragte: „Isst du Fleisch?“ Ich schüttelte den Kopf. „Gut, gut“, schnatterte er dann weiter, „also kein Geflügel und kein Schwein zu Weihnachten?“ – „Nein, nein“, sagte ich. „Nicht einmal Heringssalat?“ Er musterte mich aus seinen dunklen Augen. „Nicht einmal Heringssalat! Nur Pellkartoffeln und Brokkoliauflauf. Ehrenwort.“ – „Prima!“, rief der Engel da und bog seinen langen, schlanken Hals nach rechts und nach links. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich bis nach Weihnachten bleibe?“ Ich war überrascht. Dass ein Engel klingelt, passiert ja nicht alle Tage, aber dass er dann auch noch einziehen will …

„Sie sind nämlich hinter mir her“, fuhr er fort. „Erst nach Weihnachten wird es etwas ruhiger.“ Ich sah ihn ziemlich ratlos an. Wer waren diese sie, die ihn verfolgten, und warum? Verfolgten sie ihn vielleicht wegen Überstunden beim Hallelujah-Singen? Forderten sie Extrabescherungen nach Mitternacht? Oder gab es in der Weihnachtszeit einfach nur keine Krankheitstage für Schnupfenengel? Ich verstand das alles nicht, aber eins war mir klar: So schnell schmeißt man keinen Engel raus, schon gar keinen, der schnattert und niest. Er richtete sich also im Gästezimmer ein.

Zum Weihnachtsessen kam meine Freundin. Sie sagte nichts weiter, aber sie musterte den Engel aus dem Augenwinkel, sehr skeptisch, das habe ich wohl beobachtet. Und kurz bevor sie ging, schrieb sie dann noch eine kleine Widmung in das Grünkern-Kochbuch, das sie mir geschenkt hatte. Selbstverständlich war es eine Widmung mit ziemlich hohem Anspruch. Meine Freundin kennt sich nämlich aus mit Literatur. Da stand dann also: „Wer einen Engel sucht und nur auf die Flügel schaut, könnte eine Gans mit nach Hause bringen – Lichtenberg. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!“ Was sie damit wohl gemeint hat?