Ohne Kampf geradewegs ins Grab

Zum Standhalten gemacht, zum Kriegshandwerk berufen: An den Münchner Kammerspielen nimmt Andreas Kriegenburg den „Nibelungen“ jede Chance, stark zu wirken – und schafft eine wundersame Mischung aus klugem Witz und Bedenkenlosigkeit

VON SABINE LEUCHT

„Männer!“ ist das erste Wort des Abends. Und es wird durchaus mit Ausrufezeichen gesprochen. „Diese Zeit ist keine Zeit für Schwäche. Auf euch ruht das ganze System“, skandieren die Brüder Gunther, Gerenot und Giselher im Chor mit Hagen Tronje und dem Spielmann Volker – dem Stabilisator und dem Auflockerer im Königreich Burgund. Und dann purzeln alle durcheinander und probieren’s nochmal.

Zum Standhalten gemacht und nur zum Kriegshandwerk berufen, atmet das Mannsbild in Andreas Kriegenburgs Hebbel-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen per se dünne Luft. Es steht zwar hübsch stramm und bellt fein soldatisch, in allem anderen aber versagt es radikal. Selbst Siegfried, der Oberrecke, braucht eine ganze Armee hinter sich, wenn er um Kriemhilds Hand anhält. Als Einzelner ist der Drachentöter hier ein Trottel, dem die Zeichen der Liebe am Weibe unleserlich sind. Und auch die Zeichen der Gefahr. Weshalb er praktisch direkt von Kriemhilds Bett dem Hagen vor die Speerspitze läuft. Trauriges Volk, das sich so einen zum Nationalhelden erkor!

Sat.1 hat seine seifige Nibelungen-Fantasie eben abgenudelt, Wagners „Ring“ gibt es bald in jedem Kuhdorf, Müller, Steckel, Castorf und Schlingensief waren bereits dran am Lied und Moritz Rinke hat sich auch schon darüber lustig gemacht. Warum nun auch Andreas Kriegenburg sich diesen Brocken geschnappt hat, ist rasch erzählt. Er inszeniert Friedrich Hebbels Untergangsstück als Abfolge privater Fehlentscheidungen und zugleich als Warnung vor der Verführbarkeit der deutschen Seele: Lässt das Volk der ordnungsliebenden Grübler einmal die Zügel schießen, steht es gleich Auge in Auge der Raserei gegenüber. Die süße Versuchung aus fremden Welten – die „letzte Riesin“ Brunhild und der „letzte Riese“ Siegfried locken die Sinne und sind der Anfang vom Ende des Systems.

Nun könnte man daraus ableiten, dass die Fremdenfeindlichkeit der Deutschen hier ihre rationalen Wurzeln hat. Doch Kriegenburg folgert nichts dergleichen, aber auch sonst nicht viel. Zwar wischt sich Gerenot während einer Rede über die eigene Mittelmäßigkeit ein Hitlerbärtchen ins Gesicht, doch Auschwitz und Stalingrad sind ganz weit weg. Dafür möblieren der 41-jährige Regisseur und das großartige Ensemble Hebbels humorfreien Selbstbedienungsladen mit Witz und Spielfreude. So erschaffen große Momente und kurze Strecken reinsten Theaterglücks: Wenn Königin Brunhild (Julia Jentsch) ihren ersten Auftritt hat, redet sie mit ihrer Amme Annette Paulmann ein zauberisches (Kunst?-)Isländisch, das schwarze Haar im Hintergrund weht – wie überhaupt die ganze Szene irgendwie luftig ist.

Kriegenburg muss an Björk gedacht haben, als er diese Figur entwickelte. Neben dem grausamen Hagen, der an Hans Kremers nüchtern-zurückhaltendem Spiel zu einem pragmatischen Staatsmann moderner Prägung wächst, ist ihm die Brunhild am besten gelungen. Dass die stärkste unter den Frauen in Fesseln an den Königshof kommt, dass König Gunther sie rührend im Tanz zu domestizieren sucht – das ist szenisch wie gedanklich überzeugend: weil es Kriegenburg um Geschlechterfragen geht und nicht um Macht an sich. Und man die vielschichtige Unzulänglichkeit eines vermeintlich Überlegenen kaum besser zeigen kann als im Tanz, wo ihn die Partnerin gegen die Pfeiler drischt und er am Ende glücklich seufzt: „Das lernt sie noch. Ich find sie toll!“

Männer! – und Frauen! Das ist das Terrain, auf dem Kriegenburg seit je unschlagbar ist. Was bei seiner „Nibelungen“-Inszenierung lediglich überrascht, ist die Vermeidung jedweden Spektakels. Es ist vielleicht das Gemeinste, was man den eisernen Nibelungen-Kriegern antun kann, dass man ihnen alle Kampfszenen nimmt, wo allein sie sich beweisen könnten. Es ist auch ein bisschen gemein dem Zuschauer gegenüber, weil emotionale Erbärmlichkeit ohne das Gegengewicht körperlicher Stärke kaum einen sechsstündigen Theaterabend füllt. So ist denn auch das Finale – der Endkampf – in München die schwächste Szene: Die zur Rachemaske erstarrte Kriemhild der Wiebke Puls steht den Standbildern der nibelungentreuen Recken gegenüber. Dann wird viel zu lange der Untergang buchstabiert und nichts davon gezeigt: ein fades Fanal, wie die verblassende Erinnerung an etwas, das immer schon erinnert, aber nie erlebt worden ist.