Beifall für ein verlorenes Jahr

Angela Merkel wird mit 88,4 Prozent der Stimmen zur CDU-Chefin wiedergewählt. Es ist ihr schlechtestes Ergebnis, aber keine Katastrophe

AUS DÜSSELDORF LUKAS WALLRAFF

Es gibt Beifall, der gut tut, und Beifall, der schmerzt. Angela Merkel hat gestern beides bekommen. Nach ihrer Rede zum Auftakt des CDU-Parteitags applaudieren die Delegierten fast zehn Minuten lang stehend. „So, jetzt könnt ihr auf die Stoppuhr schauen“, sagt ein CDU-Mann zu den Journalisten. Fast zehn Minuten sind viel, mindestens so viel wie im vergangenen Jahr, mehr, als Edmund Stoiber je bei der CDU bekommen hat. Ginge man nach dem Applausometer, die K-Frage wäre entschieden.

Wäre. Denn der Jubel wirkt pflichtschuldig. Der zaghafte Versuch, eine La-Ola-Welle zu starten, scheitert. Und schon wenig später ist klar: Nicht alle, die Merkel öffentlich beklatschen, unterstützen ihre Chefin wirklich. Mit 88,4 Prozent erhält sie bei ihrer Wiederwahl keineswegs das „bombastische Ergebnis“, das ihr Vize Christian Wulff vorher angekündigt hatte, sondern das bisher schlechteste ihrer Amtszeit. Beim letzten Mal waren es noch rund 5 Prozentpunkte mehr. Enttäuschend? Ja. Eine Katastrophe für Merkel? Nein, denn so eindrucksvoll die 93 Prozent vom letzten Mal klingen – damals hatten mehr als hundert Delegierte Merkel die Stimme verweigert, indem sie gar nicht zur Abstimmung kamen.

Wirklich schmerzen muss Merkel etwas anderes: dass ihre Rede gestern durch einen Beifall unterbrochen wurde, der nicht für sie bestimmt war. Als Merkel Friedrich Merz erwähnt. Sie sagt dem „lieben Friedrich“, er sei zu Recht als „Reformer des Jahres“ ausgezeichnet worden. Der Beifall, der an dieser Stelle losbricht, ist nicht nur höflich. Der Applaus ist spontan, lange und fast schon gemein Merkel gegenüber. Weil alle wissen, dass Merz seine Partei- und Fraktionsämter gerade hingeschmissen hat. Weil alle wissen, dass von seinem „bahnbrechenden“ Bierdeckel-Konzept durch die Kompromisse mit der CSU nicht mehr viel übrig geblieben ist. Merkel lächelt gequält, wartet, bis sich die Merz-Begeisterung gelegt hat, und geht kommentarlos zum nächsten Thema über. Auch Merz zeigt nicht, wie er sich fühlt. Er nickt nur kurz. Mit Äußerungen, die als Kritik verstanden werden könnten, hält er sich zurück. Im Gegensatz zu dem Mann, der neben ihm sitzt. Wolfgang Schäuble hat Merkel kurz vor dem Parteitag bescheinigt, das Jahr 2004 sei für die Union ein „verlorenes Jahr“ gewesen. Und als NRW-CDU-Chef Jürgen Rüttgers Merkel nach ihrer Rede für ihre „klare Führung“ und die „kameradschaftliche Zusammenarbeit“ dankt, hat Schäuble seinen Platz auf dem Podium schon verlassen. Da klatschen zu müssen, wollte sich Schäuble, der auch wegen Merkel nicht Bundespräsident werden durfte, wohl ersparen.

Diese kleinen Zeichen, der Beifall für Merz und Schäubles Beifallsverweigerung, erinnern an die für die CDU unerfreulichen Ereignisse dieses Jahres. Merkel ist zwar unangefochten, aber sie hat einen hohen Preis bezahlt, der auch in ihrem Wahlergebnis zum Ausdruck kommt. Der Verlust der Kompetenzmänner Merz und Seehofer und die Kompromisse mit der CSU haben in den eigenen Reihen für Enttäuschung gesorgt, die Euphorie von Leipzig ist verflogen. Merkel versucht zu retten, was zu retten ist. Mehrmals betont sie, die „Richtung“, die 2003 eingeschlagen wurde, also hin zur „Gesundheitsprämie“ und zu einem einfacheren Steuersystem, sei „unumkehrbar“. Sie sagt, anders als Rot-Grün werde die Union nicht nur einiges anders, sondern alles „grundlegend anders“ machen, wenn sie regiert. Wie, das verrät sie nicht.

Auch die vorher groß angekündigte Patriotismus-Erklärung fällt eher mau aus. Merkel wiederholt weitgehend, was sie schon in den letzten Wochen sagte, also dass „die Idee einer multikulturellen Gesellschaft“ gescheitert sei, und sie verteidigt die Idee der Union, dass man sich als Grundlage für das Zusammenleben an „unserer freiheitlich-demokratische Leitkultur“ orientieren müsse. Neue Ideen hat sie nicht.

Die Patriotismus-Passagen funktionieren nur in Abgrenzung zu Rot-Grün – und zur Türkei. Jubel kommt nur auf, wenn sie den angepeilten EU-Beitritt der Türkei als rot-grüne „Lebenslüge“ bezeichnet und wenn sie die „Geschichtsvergessenheit“ des Kanzlers anprangert, der den Tag der Einheit abschaffen wollte. Nur daraus zieht sie an diesem Tag Stärke: aus der Geschichte, aus ihrer persönlichen Geschichte. Ausführlicher denn je geht sie auf ihre DDR-Vergangenheit ein. Selbstbewusst gibt sie, indirekt, zu verstehen: Nein, sie hat nicht die gemeinsame West-JU-Vergangenheit ihrer Rivalen, aber sie weiß, was es heißt, einen radikalen Wandel durchzuführen. Dieses Selbstbewusstsein ist ihr einziger Trumpf an diesem Tag.