„Deutschlands Schulen: unten Elend, oben Mittelmaß“

Die Föderalismuskommission muss Pisa zur Kenntnis nehmen, fordert GEW-Chefin Eva-Maria Stange. Sonst droht Kleinstaaterei bei den Schulen

taz: Frau Stange, wie bewerten Sie die neue Pisa-Studie?

Eva-Maria Stange: Es sind leichte Verbesserungen zu verzeichnen. Deutschland hat ein paar mehr Punkte in Mathematik, auch in Naturwissenschaften geht es aufwärts. Aber es gibt keinen Grund zur Entwarnung, denn das größte Problem bleibt: Die Ungerechtigkeit in unserem Schulsystem nimmt weiter zu.

Die ohnehin besseren Schüler sind es, die laut Studie bei den Kompetenzen zulegen …

… ja, weil gerade Gymnasien ihre Schüler für den Pisa-Test fleißig trainieren ließen. Von den Werten der Spitzenreiterländer wie Finnland sind wir dennoch meilenweit entfernt. Unser gegliedertes Schulsystem führt am unteren Ende ins Elend – und am oberen ins Mittelmaß.

Was muss passieren?

Es ist an der Zeit, den grundlegenden Umbau hin zu einer „Schule für alle Kinder“ endlich in Angriff zu nehmen. Aber die Wurstelei der Kultusminister und der Föderalismuskommission lassen nichts Gutes erwarten.

Was hat die Föderalismuskommission mit Pisa zu tun?

Mehr, als uns lieb sein kann. Selbst zurückhaltend argumentierende Pisa-Forscher mahnen doch als Konsequenz aus nun zwei internationalen Studien an: Eine bundesweit gut abgestimmte Entwicklung des Schulwesens – regelmäßig überprüft durch eine unabhängige Agentur – ist unverzichtbar. Gleichzeitig tagt die Föderalismuskommission und will genau in die andere Richtung: zurück in die Schrebergärten. Die Länder wollen den Bund fast völlig aus der Bildungspolitik verdrängen. Auf dass jeder Provinzfürst Bildungspolitik nach eigenem Gusto machen kann. Eine Posse. Die Welt globalisiert sich – und Deutschland verkleinstaatet sich wieder.

Sie sind eine Zentralistin!

Die Länder sollen ruhig alles tun, um für ihren Nachwuchs das beste Bildungssystem zu schaffen. Aber bitte innerhalb eines nationalen Rahmens. Deutschland wird doch von außen als Gesamtstaat wahrgenommen und nicht als Brandenburg plus Bayern plus Sachsen-Anhalt. Wenn die Föderalismuskommission so weitermacht wie bisher, ist das Schlimmste zu befürchten: nämlich dass allein Deutschland im gemeinsamen Europa 17 Vertreter ins Rennen schickt – mit unterschiedlichen Positionen.

Warum trauen Sie den Bundesländern so wenig zu?

Weil die über 50 Jahre ihre Chance hatten, in Eigenregie etwas für gute Schulen zu erreichen. Die Folgen können wir heute bestaunen: Kein anderer Pisa-Staat hat in seinen Regionen so weit auseinander klaffende Ergebnisse produziert. Die Lerndifferenz gleichaltriger Schüler zwischen den Bundesländern beträgt teilweise mehr als zwei Jahre.

Das ist schlimm. Aber könnte der Bund daran etwas ändern?

Keiner weiß, was ohne die Anstöße des Bundes in der Bildungspolitik in den letzten Jahren überhaupt in Gang gekommen wäre. Die Ganztagsschulen etwa, die heute in Deutschland aus dem Boden sprießen, hat der Bund gegen den hinhaltenden Widerstand der Länder durchsetzen müssen. Das inzwischen so viel beachtete Sinus-Projekt für besseren Mathematikunterricht hat der Bund mit erfunden und bezahlt. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es ohne ein institutionelles Forum wie die Bund-Länder-Kommission gar nicht geht. Ausgerechnet dieses Gremium für Bildungsplanung aber wollen die Länder ersatzlos streichen.

Warum erkennen so versierte Politiker wie Edmund Stoiber und Franz Müntefering das Problem nicht?

Die arbeiten unter der öffentlichen Erwartung, dass sie etwas zustande bringen müssen, um den blockierten Bundesstaat wieder entscheidungsfreudig zu machen. Schaffen sie das nicht, blamieren sie sich. Man hat den Eindruck, dass diejenigen, die etwas von Bildung verstehen, bewusst außen vor gelassen werden. Die Staatskanzleien leiten die Beratungen, die Kultusminister werden nicht gefragt.

Alle Bildungsmacht den Bundesländern – was hieße das?

Dass die Mobilität der Menschen zwischen den Ländern in Gefahr gerät. Egal, welchen Bereich Sie von der Kita bis zur Hochschule nehmen, der Bund wird als Koordinator und Kofinanzierer gebraucht. Oder soll die Kitaversorgung in Ost und West sich weiter dramatisch unterscheiden? Oder soll jedes Land eigene Bildungsstandards entwerfen? Oder sollen die kleinen Länder im Hochschulbau abgehängt werden?INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER