Bildung auf der schiefen Bahn

Pisa II zeigt: Deutschlands Schüler sind durchaus intelligent. Aber die Schulen schaffen es nicht, dies in fachbezogenes Wissen umzumünzen

VON SABINE AM ORDE
UND CHRISTIAN FÜLLER

Die deutschen SchülerInnen sind ins Mittelmaß aufgestiegen. Im zweiten internationalen Pisa-Test haben sie sich in den Disziplinen Mathematik und Naturwissenschaften leicht verbessert und damit in die Durchschnittsgruppe der 41 Teilnehmerländer hochgearbeitet. Das zeigen die Ergebnisse der Studie „Programme of International Students Assessment“ (Pisa 2003), die gestern Abend offiziell vorgestellt wurde. Dennoch liegen die deutschen 15-Jährigen mit ihren Leistungen immer noch ein- bis anderthalb Lernjahre hinter der internationalen Spitzengruppe.

Zu der zählen Finnland, Hongkong, Kanada, Japan und Südkorea. Sie sind die klaren Sieger im zweiten Pisa-Test, an dem insgesamt 250.000 SchülerInnen teilnahmen. Die Überraschung dabei ist Hongkong, das erstmals an Pisa teilnahm. Als Aufsteiger gilt Polen, das sich nach einer umfassenden Schulreform von einem der letzten Plätze (bei Pisa 2000) in der Basiskompetenz Lesen und Textverständnis an Deutschland vorbei ins obere Mittelfeld vorarbeiten konnte. Deutschland liegt, je nach Disziplin, auf den Rängen 16 bis 21.

Das schlechte Abschneiden der deutschen SchülerInnen bei der 2001 veröffentlichten Studie Pisa 2000 hatte für einen Schock im Land der Dichter und Denker gesorgt. Damals war die Lesefähigkeit Schwerpunkt. Seitdem wird allerorten heftig an den Schulen herumreformiert – zu einer Strukturveränderung wie in Polen aber konnten sich die Kultusminister nicht aufraffen.

Dabei gibt es für Entwarnung keinen Grund. Die Pisa-Forscher jedenfalls sind schon froh, „dass sich Bildungsergebnisse für Deutschland in keiner Weise verschlechtert haben“. Ein Anstieg ist immerhin in der Mathematik zu verzeichnen, dem Schwerpunkt. Der aber gilt nicht für alle SchülerInnen: Verbessert haben sich GymnasiastInnen, ein leichter Zuwachs ist auch an den integrierten Gesamt- und an den Realschulen feststellbar. An den Hauptschulen aber hat sich gar nichts getan. Der große Unterschied zwischen guten und schlechten SchülerInnen, von den Forschern bereits in Pisa 2000 kritisiert, hat sich also weiter verschärft. Größer als hierzulande ist die Leistungsspanne nur in Belgien und der Türkei.

Nicht verbessert hat sich auch die extrem hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft der Kinder. Ganz im Gegenteil: Dort, wo es Leistungszuwächse gibt, hat sich diese sogar weiter verschärft. Generell gilt: Ein Kind aus einem reichen und gebildeten Elternhaus hat – bei gleicher Begabung – eine fast sechsmal größere Chance, das Gymnasium zu besuchen. Wo es dann wiederum viel besser gefördert wird als an jeder anderen Schule. Besonders schwer haben es dabei Jugendliche aus Migrantenfamilien, gerade jene, die in Deutschland geboren und hier zur Schule gegangen sind. Sie schneiden noch schlechter ab als zugewanderte Jugendliche und landen häufig in der Gruppe der so genannten RisikoschülerInnen, die nach wie vor ungebührlich groß ist: Je nach Disziplin gehören dazu zwischen 21,6 (Mathematik) und 23,6 Prozent (Lesekompetenz) der getesteten Jugendlichen. Sie können auch am Ende der Schulpflichtzeit nur auf Grundschulniveau rechnen und einfache Texte kaum verstehen.

Als „wichtige Herausforderung für die nächsten Jahre“ mahnen die Forscher für Deutschland drei Dinge an: „Die Verbesserung der Kompetenzen im unteren Leistungsbereich, die Förderung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund und die Reduzierung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb.“

Den Leistungszuwachs in Mathe führen die Forscher auf die seit 1999 eingeleiteten Verbesserungen im Unterricht zurück – wofür vor allem das Bund-Länder-Programm Sinus steht. Das startete nach dem schlechten Abschneiden der deutschen SchülerInnen bei der Pisa-Vorgängerstudie TIMSS zunächst an 750 Schulen und soll sich nach dem Schneeballsystem verbreiten.

Immerhin, in einer Disziplin schneiden deutsche Schüler überdurchschnittlich gut ab: beim Problemlösen. Die Pisa-Macher haben fächerübergreifende Fragen neu in den Test aufgenommen. Dabei geht es nicht um schulisches Wissen, sondern darum, Fragen des Alltags zu beantworten, „bei denen der Lösungsweg nicht unmittelbar erkennbar ist“.

Aber selbst dieser Teilerfolg in einer anspruchsvollen Disziplin („intelligente Anwendung von Wissen“) wirft ein bezeichnendes Licht auf die deutsche Lernsituation. Die Pisa-Forscher kommen zu dem Schluss, dass die Schulen hierzulande offenbar nicht in der Lage sind, die hohen kognitiven Fähigkeiten der Schüler „in fachbezogenes Wissen umzusetzen“.

Ähnlich resistent erweist sich die Bildungspolitik. Der Pisa-Koordinator der OECD in Paris, Andreas Schleicher, mahnte gestern erneut eine große Reform der Schulstruktur an, die sich nicht an den kleinteiligen Interessen einzelner Länder orientiert. Die Weichenstellungen der Kultusminister, die sich unverdrossen auf dem richtigen Weg sehen, zeigen freilich in eine andere Richtung: Jegliche Einmischung des Bundes lehnen sie ab. Und in der Föderalismuskommission wird fleißig daran gearbeitet, den Rest an bundesweiter Koordinierung auszumerzen (siehe Interview). So fällt das Resümee von Pisa II widersprüchlich aus: Deutschland hat überdurchschnittlich intelligente Schüler, mit denen Schulen wie Bildungspolitik überfordert sind.