Ich tue, also bin ich Patriot

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Das moderne Individuum ist erwachsen, schwach und potenziell unglücklich

Der Halbbruder des Bundeskanzlers ist schon wieder ohne Job. Ab Januar, erklärte Lothar Vosseler gerade einer großen Nachrichtenagentur, fällt er unter die Hartz-IV-Regelung. „Für einen neuen Job bin ich wohl zu alt und für die Rente zu jung.“

Oje, wie soll ein ganzes Land mit dem Kanzler in die Zukunft aufbrechen, wenn der nicht einmal seinem eigenen Bruder einen Job besorgen kann? Jetzt verstehe ich, was die Leute meinen, wenn sie sagen: Das ist ja schlimmer hier als in jeder Bananenrepublik! In jeder anständigen Bananenrepublik kümmert sich der Bananenpräsident nämlich um seine Familie. In jeder vernünftigen Bananenrepublik wäre Lothar Vosseler längst Minister. Hat der Kanzler nicht auch noch eine arbeitslose Cousine im Osten? Egal, bleiben wir ruhig beim Bruder.

Obwohl uns natürlich ganz klar sein muss, dass Schröder niemals das Zeug hätte zum Präsidenten einer Bananenrepublik. Die haben nicht nur einen Halbbruder und eine Ostcousine zu versorgen, nein, die haben Familien so groß wie …, na ungefähr so groß wie die ganze Agentur für Arbeit. Daran wird ersichtlich, dass wir die Lebensleistung von Bananenrepublikspräsidenten in typisch westlicher Ignoranz bisher verkannt haben.

Gerade vor sechs Wochen hatte Vosseler eine neue Arbeit gefunden. Er wurde Außendienstmitarbeiter für die Vermarktung eines Brotes. Ob es Bernd, das Brot, war, hat die Agentur nicht gesagt. Jedenfalls wurde dem Kanzlerbruder Ende November „betriebsbedingt gekündigt“. Allerdings sollte man mit 57 auch nicht mehr Außendienstmitarbeiter sein. Seit Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ kann man das wissen. Für Vosseler jedenfalls ist das Lieblingsprojekt seines Halbbruders gelaufen. Das mit der neuen Mitte wird nichts mehr.

Der Kanzler hat inzwischen andere Probleme. Patriotismus ist das, was ich jeden Tag tue, hat er gesagt. Nur Ignoranten lächeln darüber. Hat Gerhard Schröder nicht vorgestern einen chinesischen Großauftrag über einen ganzen Airbus-Park an Land gezogen? Das ist eine patriotische Tat. Und ein kleiner einsichtsvoller norddeutscher Bauer verkaufte soeben sein Land, um eine schöne Betonpiste daraus machen zu lassen. Denn an der Airbus-Startbahn-Verlängerung, hatte der Wirtschaftsminister sinngemäß erklärt, hängt das Schicksal Deutschlands. Nun nicht mehr. Auch der Bauer ist ein Patriot. Kanzlersätze sollten aber allgemein verallgemeinerbar sein. Das Volk sollte sie guten Gewissens nachsprechen können, nicht nur ein Bauer. Patriotismus ist das, was ich jeden Tag tue, ist ein sehr schöner Satz. Allerdings erführe er bereits im Munde des eigenen Bruders einen gewissen Bedeutungswandel. Wenn das, was Millionen Tag für Tag tun, vor allem nichts ist – ist das dann noch Patriotismus?

Noch 23 Tage bis zu Hartz IV. Dann haften Menschen füreinander, die einander vielleicht noch gar nicht lange kennen, aber aus lauter Übermut oder Sympathie, was dasselbe ist, zusammenwohnen. Wenn der neue Freund noch immer Arbeit hat, aber die Freundin nicht mehr, dann bekommt sie kein Geld mehr und er muss für sie aufkommen. Wir erkennen in Hartz IV somit schon jetzt den großen Beziehungsarbeiter der Zukunft. Und ein bisschen ungerecht ist es auch. Der Kanzler zum Beispiel kennt seinen Halbbruder schon sehr, sehr lange, er muss nicht einmal mit ihm zusammenwohnen und braucht trotzdem nicht für ihn zu zahlen.

Bei den Türken wäre das nie passiert. Ist schon einmal jemandem aufgefallen, dass es kaum türkische Penner gibt? Die Türken haben es im Augenblick besonders schwer, nicht nur wegen Helmut Schmidt. Jeder will sie integrieren, sogar Angela Merkel. Da bald Weihnachten ist, das Fest als Hochamt für die Familie, sollten wir uns fragen: Kann Gerhard Schröder von den Türken lernen? Wahrscheinlich spüren die Türken, was sie zu verlieren haben. Denn sie wissen noch viel mehr über die Familie als wir. Oder sie wissen es nur instinktiv, weil man sich des Selbstverständlichen meist nicht bewusst ist. Sonst wäre es nicht mehr selbstverständlich. Die Familie ist der Ort, der dich auffängt, ohne Ansehen deiner Leistung, deines Versagens „draußen“. Das ist vielleicht ihre tiefste Bestimmung. Also ist die Familie ein kolossaler Ort. Wenn Lothar Vosseler Türke wäre, brauchte er nur anzuklopfen, und seine Hauptidentität wäre nicht länger brotloser Brotvertreter, sondern Familienmitglied. Dass solche außergewöhnlichen Orte ihren Preis haben und Opfer fordern, ist keine Frage.

„Integration“ nun ist der Name für ein konkurrierendes Bindungsangebot. Sehen wir das mal rein physikalisch. Jedes Individuum hat nur endlich viele Bindungspunkte. Also solche, wo andere andocken können. Entweder diese Punkte zeigen mehr nach innen (Krisenzeiten!), oder sie zeigen mehr nach außen. Die Türken sollen sich mehr um ihre Außenbindungen kümmern, wenn sie hier leben wollen, lautet die Botschaft. Das moderne Individuum hat nämlich viel mehr Außen- als Binnenbindungen. Erstere sind ihrer Natur nach viel loser. Darum ist das total vernetzte Individuum denkbar, das zuletzt – etwa zu Weihnachten – vollkommen allein bleibt. Weihnachten für den bekennenden Single der blanke Horror. Denn das Fest sagt: Du sollst nicht allein sein!

Wenn das, was Millionen Tag für Tag tun, vor allem nichts ist – ist das dann nochPatriotismus?

Das Wort Parallelgesellschaft ist aber irreführend. Es handelt sich um Parallelgemeinschaften. Gemeinschaften haben viel stärkere Binnenbindungen als Gesellschaften. Sie sind wesentlich vorrational, eben familienförmig. Dass aber auch moderne Gesellschaften nicht ganz ohne den Gemeinschaftsaugenblick auskommen, ja dass sie ohne den Familienaspekt einfach zerfallen würden, merkt gerade jeder. Die Aufforderung zum Patriotismus meint genau das. Sie ist der Appell an eine Identität, die uns vorausgeht. Der Mensch kann sich seine Eltern nicht aussuchen, er kann sich sein Vaterland nicht aussuchen und eben deshalb soll er beide ganz besonders lieben. Eigentlich ist das eine Zumutung. Denn das moderne Individuum ist Souverän seiner Bindungen. Und wer mit ihm verwandt ist, das bestimmt es nach Möglichkeit selbst. Man nennt das auch Wahlverwandtschaften.

Letztlich ist dieses verschiedene Bindungsverhalten der Hauptgrund fürs Fremdbleiben. Es liegt nicht an der Religion, wie viele sagen. Es liegt nicht einmal an der „anderen Kultur“, sondern an der Art der Bindungen. Die sind in der traditionellen türkischen Gesellschaft vordefiniert, nicht nur die des Mannes zur Frau. Das macht diese Gemeinschaften so stark, so kindlich und beschränkt zugleich. Allein dass Männer und Frauen getrennte Lebensbereiche haben, ist wie eine ewige festgeschriebene gesellschaftliche Pubertät. Halbreife Jungen und Mädchen meiden einander auch. Das moderne Individuum dagegen ist erwachsen, schwach und potenziell unglücklich. Es beharrt darauf, seine Anschlüsse selbst zu vergeben, und muss aber damit rechnen, dass keiner ans Telefon geht.

Das Individuum ist sein eigenes Schicksal und sein eigenes Risiko. Insofern hat Gerhard Schröder Recht. Es ist vielleicht ein Formfehler, aber grundsätzlich möglich, Bundeskanzler zu sein und einen brotlosen Brotvertreter zum Bruder zu haben.