Nippons schleichende Militarisierung

Japans konservative Regierung baut die Streitkräfte aus, die nicht so heißen dürfen, und wagt sich an das Tabu, die pazifistische Verfassung zu ändern, die bisher Auslandseinsätze verbot. Japan dürfte künftig außenpolitisch forscher auftreten

AUS TOKIO MARCO KAUFFMANN

Japan hat offiziell keine Armee, sondern so genannte Selbstverteidigungskräfte, keinen Verteidigungsminister, sondern einen Leiter der Selbstverteidigungsbehörde. Panzer? Die heißen Spezialfahrzeuge. Eskortschiffe, wie sie hier genannt werden, heißen anderswo Zerstörer. Japans Medien verwenden fast zwanghaft den Präfix „Selbstverteidigung“, sei es bloß in einer Bildlegende, die einen „Angehörigen der Selbstverteidigungskräfte“ im Irakeinsatz zeigt, der eine Wasserpumpe repariert.

Sich nur so weit zu bewaffnen, wie zur Selbstverteidigung nötig, dies gebietet die pazifistische Verfassung, die Japan nach dem Zweiten Weltkrieg von der US-Besatzungsmacht und heutigem Alliierten vorgesetzt bekam. Der Kriegsverlierer verpflichtete sich, „auf ewig dem Krieg als souveränem Recht der Nation zu entsagen“. Doch fast 60 Jahre nach der Kriegsniederlage mischt die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt bei den Rüstungsausgaben in der Topliga mit und schärft ihr Profil.

Japans Generäle, mit der Bedrohung Nordkorea im Hinterkopf, regen die Erforschung eines Programms für Langstreckenraketen an. Im Oktober empfahl ein Beratergremium von Premierminister Junichiro Koizumi, Präventivschläge ins militärische Instrumentarium aufzunehmen. Derweil fordert Japans Industrieverband, das Waffenexportverbot zu lockern. Eine Vorbedingung, um die Zusammenarbeit mit den USA für ein Raketenabwehrschild („Missile Defence“) voranzutreiben.

Langstreckenraketen, Präventivschläge – alles bloß Selbstverteidigung, wie die Regierung unablässig versichert? Ausländische Militärexperten haben Zweifel und verweisen etwa auf Japans schlagkräftige Marine. Die sei stärker als zur Selbstverteidigung nötig. Gewiss, eine klare Trennung zwischen offensiver und defensiver Bewaffnung gibt es nicht, doch verfügt Japan über Waffensysteme, die auch in Angriffsoperationen gute Dienste leisten würden. Die heutige Verteidigungspolitik Japans sei nicht mehr zeitgemäß, sagt die konservative Regierung. Das Land müsse auf neuartige Gefahren „schnell und flexibel“ reagieren und international eine aktivere Rolle spielen können.

Nur: Mit der heutigen Verfassung sei dies kaum möglich. Den Irakeinsatz von 550 japanischen Soldaten – die Regierung spricht von einer humanitären Mission – halten Kritiker für Verfassungsbruch. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg halten sich japanische Soldaten ohne UN-Mandat in einem Kriegsgebiet auf. Die südirakische Stadt Samawah wurde von Tokio mutig zur „Nicht-Kampfzone“ erklärt. Kritiker höhnen, bisher sei kein japanischer Soldat ums Leben gekommen, weil die Einheiten vornehmlich in der Kaserne ausharrten. Werden die Selbstverteidigungskräfte angegriffen, müssen sie niederländische Einheiten zu Hilfe rufen. Umgekehrt dürfen sie den Holländern keinen Beistand leisten. Das verbietet die Verfassung. Das Mandat für die Samawah-Truppe wird Koizumis Kabinett vermutlich diese Woche verlängern.

Mit der Diskussion über eine neue Verfassung wagt sich die konservative Regierung Koizumi an ein Tabu. 57 Jahre lange wurde das pazifistische Grundgesetz nicht angetastet, kein Wort daran geändert, obgleich Nationalisten es seit Anbeginn als demütigend ablehnten. Laut Umfragen soll eine Bevölkerungsmehrheit für eine Änderung in verschiedensten Bereichen sein. Daraus zu folgern, Japan entledige sich demnächst seines pazifistischen Grundgesetzes, wäre allerdings falsch. Die Mehrheit der Bevölkerung will an Artikel 9, dem Friedensartikel, festhalten. Zudem suchen diejenigen, die eine Überarbeitung der Verfassung unterstützen, nicht automatisch eine stärkere militärische Rolle Japans. Die wichtigste Oppositionspartei, die Demokratische Partei, ist beispielsweise gegen den Irakeinsatz.

Wohin also steuert die japanische Sicherheitspolitik? Ein Gradmesser wird das Nationale Verteidigungsprogramm sein, das eine Neuausrichtung verspricht. Das Strategiepapier, das womöglich China explizit als Bedrohung aufführt und die Entwicklung von Langstreckenraketen vorsieht, soll in den nächsten Tagen verabschiedet werden.

China und Korea, beide hatten im 20. Jahrhundert unter Japans Aggressionspolitik besonders zu leiden, sehen Japans schleichende Militarisierung mit Sorge. Ein Rückfall in den Militarismus der 30er-Jahre steht in Tokio nicht bevor. Doch dürfte Japan künftig forscher auftreten. Koizumi sucht eine stärkere außenpolitische Rolle für sein Land und unterstreicht dies mit Truppeneinsätzen im Ausland und der Forderung für einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat.