Gottesmann mit Reisealtar

Wenn die Weihnachtsglocken läuten und zum Gottesdienst rufen, kann Pastor Klaus Biehl endlich einmal ausspannen und sich nur um sich selbst kümmern. Wie das?

von CORNELIA KURTH

Ein Pfarrer ohne Kirche. Sein Dienstzimmer ist der Wohnwagen, im Gepäck stecken Talar und Reisealtar, und wenn es gilt, einen Gottesdienst im Bierzelt abzuhalten oder den Segen zur Eröffnung einer Schießbude zu geben, dann sagt er selbstverständlich zu. Fast das ganze Jahr über ist er unterwegs, um seine verstreute Gemeinde zu suchen. Ausgerechnet Weihnachten aber, am hohen Kirchenfest, da hat er frei. Was soll denn das für ein Pfarrer sein?

„Ich bin von der Reise“, sagt er. Sein Name ist Klaus Biehl. Sein Gesicht ist klar geschnitten und wettergegerbt. Hell leuchten seine blauen Augen. Er könnte ein Seemann sein, ein Abenteurer. Tatsächlich ist er „Zirkus- und Schaustellerseelsorger“ der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Außer ihm gibt es bundesweit nur noch zwei andere Pfarrer, die eine so verrückte Aufgabe wählten wie die, den ständig umherreisenden Gemeindemitgliedern auf den Fersen zu bleiben, den Autoscooterbesitzern und Zuckerwatteverkäufern, Riesenradbetreibern und Inhabern von Geisterbahnen, den Familien mit millionenschweren Fahrgeschäften und denen mit der kleinen Kinderschaukel: dem „fahrenden Volk“, wie manche auch sagen.

Sein Gebiet umfasst ganz Nordwestdeutschland: Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. 64 Jahre ist er alt, und im März geht er in Pension. Einer seiner potenziellen Nachfolger schrieb in der Bewerbung um die frei werdende Stelle, er hoffe, da er ja so schön in der Mitte des Zuständigkeitsgebiets wohne, abends immer zu Hause schlafen zu können. „Unmöglich!“, sagt Klaus Biehl entschieden. „Man muss sich mit seiner ganzen Person in die Waagschale werfen. Wer für die Schausteller und Zirkusleute da ist, braucht einen Wohnwagen, sonst fehlt etwas!“ Er kann es auch noch viel schöner sagen: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“

Manchmal gähnt er unvermittelt im Gespräch. Kein Wunder: Gerade war er auf dem Bremer Freimarkt, hat mit tausend Leuten gesprochen und zum Schluss einen Mitternachtsgottesdienst abgehalten, um dann, nach fünf Stunden Schlaf, rechtzeitig zur Eröffnung der „Herbstmesse“ im niedersächsischen Städtchen Rinteln anzukommen – da erreicht ihn auch schon die Nachricht, dass die Mutter eines Schaustellers gestorben ist. Zwei Tage später soll sie in Herford beerdigt werden.

Und bei allem kann er keinen Schritt über den Messerummel der kleinen Stadt tun, ohne dass die Schausteller ihn, hoch gewachsen und eindrucksvoll, wie er nun mal aussieht, erkennen und mit ihm sprechen wollen. Morgen wird Schaustellersohn Marc in der Rintelner Kirche konfirmiert, die ganze verstreute Verwandtschaft ist angereist. Und übermorgen muss er schon in Hamburg sein, zum Winterdom. „Ja, ich stehe immer unter Strom.“ Das ist eine Tatsache, keine Klage.

Er liebt seinen Beruf, im Grunde gehört er zu dessen Erfindern. In der DDR, wo er in der Mark Brandenburg aufwuchs, da gab es, Jahre bevor in Westdeutschland von so was die Rede war, zwei Seelsorger für die „Leute von der Reise“, allerdings nur für solche, die zum Zirkus gehörten. Die Schausteller, die von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zogen, wollten auch so einen haben. Und als 1978 einer der Vorgänger ins Rentenalter kam, sagte Klaus Biehl kurz entschlossen zu, der allererste Schaustellerpfarrer zu werden.

Da war er schon ein sehr erfahrener Mann. Hatte ab den Sechzigerjahren für die Stadtmission Magdeburg in der Fürsorge gearbeitet, nacheinander mit Trinkern und mit Häftlingen, mit Gehörlosen, geistig Behinderten und verlorenen Jugendlichen. „Ja, der verschwiegene Hinterhof des Soziallismus“, meint er. „Ich habe alles kennen gelernt, was man ganz unten nur kennen lernen konnte.“

Zu den Gescheiterten und Außenseitern zog es ihn vielleicht auch deshalb, weil seine eigene Karierre ziemlich früh gefährdet schien. Als Junge hatte er sich so lautstark dagegen gewehrt, in die FDJ einzutreten, dass er nach der achten Klasse von der Schule flog. Zum Glück übernahm seine Kirchengemeinde für ihn die Patenschaft und ermöglichte ihm den Besuch von Pro- und Oberseminaren, die in etwa der gymnasialen Ausbildung und einem Theologiestudium entsprachen.

Als Kreisjugendwart in Brandenburg und später im Land Mecklenburg als Leiter der Jungmännerarbeit – „das war der verkappte CVJM“ – wurde ihm 1978 nahe gelegt, Ausbilder für die Jugendarbeit zu werden. „Das wollte ich aber nicht. So eine Arbeit, weitab von den Menschen, um die es eigentlich geht, nein, da hatte ich Angst, ‚leer‘ zu werden.“ Bevor seine Weigerung zu einem erneuten Problem hätte führen können, sollte es endlich einen Schaustellerseelsorger geben.

Anders als ein großer Teil der Zirkusleute, die für den Staat arbeiteten, zählten die Schausteller mit ihren „Geschäften“ zu den seltenen Selbstständigen in der DDR. Das brachte zum Beispiel das Problem mit sich, über keinerlei Organisation zu verfügen, die ihnen zu einem bei den „Werktätigen“ so beliebten Urlaub im betriebseigenen Ferienheim verhelfen konnte. Schon nach kurzer Zeit wurden Klaus Biehl und seine Frau zu einer Art „Seelsorger-Reisebüro“.

Sie organisierten den Winterurlaub für die das ganze Jahr über beschäftigten Schausteller, telefonierten herum, ordneten die nötigen Papiere, buchten Hotels im östlichen Ausland und in heimischen Gefilden. Besonders wichtig wurden die Sommerferien für die Kinder und die Großeltern der „Leute von der Reise“. Während die Eltern auf den Jahrmärkten standen, ging es mit ganz Jung und ganz Alt für vierzehn Tage in ein Ferienheim ans Meer, und die Biehls waren immer dabei. „Wir hatten nur uns selbst und das jeweilige Haus. Einfach toll!“

Natürlich musste er damals sein neues Arbeitsgebiet erst mal gehörig erkunden. Zwar hatte Klaus Biehl auch schon während seiner Jugendarbeit Problemfamilien besucht und auch Ferienfahrten organisiert. Mit Gottesdiensten, Predigten, Trauungen, Hochzeiten, Konfirmationen und Beerdigungen allerdings hatte er in seiner bisherigen diakonisch ausgerichteten Arbeit noch kaum Erfahrungen gesammelt. Und außerdem: Wie findet man überhaupt seine unsteten Gemeindemitglieder in Zeiten ohne Handy, ohne zuverlässig funktionierendes Telefon?

„Das Telefonnetz in der DDR war einfach furchtbar. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich auf verschiedenen Postämtern verbracht und darauf gewartet habe, dass es eine Verbindung gibt.“ Kurz bevor die Mauer fiel, klappte es endlich mit einem eigenen Telefon an seinem häuslichen Standort. Und das war dann auch gleich angezapft. Wie er den Schaustellern hinterherfuhr, so reiste ihm die Stasi hinterher. Wo immer er neue Schauststeller kennen lernte, lag unweigerlich die Frage im Raum: „Wer bist du überhaupt? Können wir dir vertrauen?“

Bei all diesen Anfangsschwierigkeiten war es höchst nützlich, dass der zirkuserfahrene Vorgänger nicht umstandslos in den Ruhestand ging, sondern sich bereit erklärt hatte, Biehl und dessen Frau ein Jahr lang zu begleiten und ihnen zur Seite zu stehen. Zu dritt fuhren sie in einem primitiven Wohnwagen über Land, das Pfarrerpaar und der alte Kollege. Zwei Schlafstellen hatte das Gefährt, aber kein Wasser und keine Pumpe. Wenn es ans abendliche Waschen ging, verließ die jeweils andere Partei höflich den Einraumwagen, und an kalten Tagen, wenn es fürs „Porta-Potti“, die glücklich aus dem Westen erworbene transportable Toilette, draußen im Vorzelt wirklich zu kalt war, dann musste ein entsprechendes Bedürfnis angekündigt werden, damit die daran nicht Beteiligten sich diskret verziehen konnten, um erst nach einer angemessenen Lüftungszeit wieder reinzukommen.

„Wir haben uns in allem sehr gut verstanden“, meint Pfarrer Biehl. „So gut, dass der alte Kollege nach dem Übergangsjahr sehr gern weiter mit uns gereist wäre. Aber da bestanden wir dann doch darauf, ab jetzt unsere Aufgabe selbstständig zu übernehmen …“

Der Fall des Eisernen Vorhangs schaffte Klaus Biehl die Stasi vom Hals. Auch ein Handy kaufte er sich sofort. Mehr denn je bedurfte es in der Zeit des Umbruchs seines Rats und seiner Tat. Aber 1995 beschloss die Evangelische Kirche in Deutschland, dass zwei Zirkus- und Schaustellerseelsorger für den Osten zu viel seien. „Und so kam es, dass ich alles, was ich aufgebaut hatte, aufgeben musste.“ So cool der Mann die ganze Zeit wirkt, da erwischt ihn doch ein Hauch Melancholie.

„Im Westen ist die Arbeit alles in allem ganz ‚normal‘.“ Das allerdings kann wirklich nur ein so alter Hase sagen. Etwa sechzig verschiedene Plätze sucht er im Lauf eines Jahres auf, wobei es sich meist um Jahrmärkte handelt, denn die kleinen Familienzirkusse reisen kurz entschlossen und oft schon nach zwei, drei Tagen weiter, sodass er sie nur in Ausnahmefällen besuchen kann. Vierzig bis sechzig Konfirmationen stehen jährlich an, samt vorbereitenden Konfirmandenfreizeiten. Zu dreißig bis vierzig Taufen wird er gerufen, zu Hochzeiten und Beerdigungen.

In der Hochsaison finden an den Wochenenden in seinem Gebiet bis zu zweihundert Feste gleichzeitig statt. Einen präzisen Plan, wann er selbst wo sein wird, kann es nicht geben. „Ich muss einfach dieses Gottvertrauen haben, dass ich schon der richtige Mann am richtigen Platz bin“, sagt er. „Und wenn ich mal nicht alles schaffe, was wichtig war, dann muss ich auch damit leben: Ich komme ja wieder!“

Was nicht ganz richtig ist. In Rinteln, wo er längst zur Institution geworden ist und jedes Jahr seinen Gottesdienst in der schönen Marktplatzkirche hält, war er nun zum letzten Mal. Ach, es wird ihm nicht leicht fallen, das Reiseleben hinter sich zu lassen und für immer standfest in seinem Dörfchen bei Bremerhaven zu leben, das merkt man ihm an, obwohl er kein Wort in dieser Richtung verlauten lässt. Wie nur soll sein Nachfolger das weite Feld der Zirkus- und Schaustellerseelsorge erobern! Braucht er nicht einen erfahrenen Begleiter für das erste Jahr? Vielleicht einen, der mitfährt im Wohnwagen? Immerhin gibt es heutzutage ja Dusche und Toilette und die Möglichkeit, eine Schiebetür zuzuziehen.

An den Weihnachtstagen, wenn er sich, genau wie seine Gemeinde, im Heimathafen ausruht, ist wohl Zeit genug, nachzudenken. Zu einem Schluss zu kommen.

CORNELIA KURTH, 43, lebt als freie Autorin in Rinteln