Berlin wird wieder Defizitsünder

KONJUNKTUR Die EU-Kommission senkt ihre Prognose für Europa auf minus 4 Prozent und erwartet in vielen Ländern – auch Deutschland – ein Überschreiten der Schuldengrenze

Vor allem in Osteuropa steigen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung dramatisch an

VON RANIAH SALLOUM

Die Europäische Kommission sieht Licht am Ende des Tunnels – doch vielleicht sind es auch nur die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Lkws. Erst korrigierte die Kommission am Montag in Brüssel ihre Wachstumsprognosen nach unten: Doppelt so stark wie noch vor drei Monaten angenommen, nämlich um 4 Prozent, wird das Bruttoinlandsprodukt der europäischen Länder 2009 wahrscheinlich schrumpfen. Jeder zehnte Europäer wird keinen Job haben, und explodierende Neuverschuldungen werden den EU-Stabilitätspakt ad absurdum führen. Dann erklärte EU-Währungskommissar Joaquín Almunia hoffnungsvoll: „Die ehrgeizigen Maßnahmen der Regierungen und Zentralbanken werden voraussichtlich dem Wirtschaftsabsturz diesem Jahr ein Ende machen.“ 2010 solle das Minus nur bei 0,1 Prozent liegen.

Bedingung dafür sei jedoch, warnte Almunia, dass die Regierungen wieder Vertrauen ins Finanzsystem herstellten. Dazu müssten schlechte Kreditpapiere ausgemistet und weiteres Geld in die Banken gepumpt werden. Gleichzeitig warnte die Kommission vor den steigenden Schulden. In der EU werde 2009 die Neuverschuldung 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen und 2010 sogar 7,3 Prozent. Der Stabilitätspakt erlaubt jedoch nur 3 Prozent. Voraussichtlich 21 der 27 EU-Staaten werden ihn 2009 und 2010 verletzen – darunter auch Deutschland, das aber mit einer Neuverschuldung von 5,3 Prozent 2009 und 6,5 Prozent 2010 noch zu den EU-Musterschülern zählt. Beim Wachstum rechnet die Kommission für Deutschland im Jahr 2009 mit einem Minus von 5,4 Prozent und 2010 mit einem Plus von 0,3 Prozent, was etwa den Erwartungen der Bundesregierung entspricht.

Von der Krise besonders hart getroffen sind die osteuropäischen Länder. Ihre Neuverschuldung steigt drastisch an; ein Eurobeitritt rückt für sie in die Ferne. Gegen die Euroanwärter Polen, Litauen und Lettland wird die Kommission ein Sanktionsverfahren einleiten, sagte Almunia, auch gegen das Euroland Malta. Die vier Länder hatten bereits 2008 die Defizitgrenze verletzt, ebenso wie Frankreich, Spanien, Irland und Griechenland, gegen die bereits seit Februar ein Verfahren läuft. Deutschland muss hingegen zunächst kein Sanktionsverfahren fürchten.

Auf dem Arbeitsmarkt schätzt die Kommission, dass in der EU in diesem und dem nächsten Jahr 8,5 Millionen Jobs verschwinden werden. Dies entspricht fast allen Arbeitsplätzen, die seit 2006 geschaffen wurden. Die Arbeitslosenquote wird in den Euroländern von 7,5 Prozent im letzten Jahr bis 2010 auf 11,5 Prozent ansteigen, am stärksten in Spanien und Irland. Für Deutschland rechnet die Kommission 2009 mit einer Arbeitslosenquote von 8,6 Prozent, die 2010 auf 10,4 Prozent springen wird, wenn Kündigungen nicht mehr durch Kurzarbeit verhindert werden. Die schlechte Situation auf dem Arbeitsmarkt wird Druck auf die Löhne ausüben.

Die Inflationsrate sinkt laut EU 2009 in Deutschland auf 0,25 Prozent, in der Eurozone auf 0,4 Prozent. Im nächsten Jahr werde sie nur auf 1,2 Prozent steigen, vermutet die Kommission. Die Europäische Zentralbank strebt eine Inflationsrate von unter 2 Prozent an.