berliner szenen Warten auf Weihnachten

Der Menschenfleischer

Weihnachten ist vor allem auch Stress, Disstress und Verzweiflung. Die Unglücksfälle häufen sich, alles wird ganz schwer, man selber und die anderen: ganz unleidlich, komisch, depressiv. Oft denkt man, es wäre gut, wenn statt Weihnachten etwas Schönes und Leichtes stattfände, eine Love Parade im Winter zum Beispiel, oder wenn auf den 23. 12. direkt der 28. 12. folgen würde. Aber das geht ja alles nicht.

Manche können den Weihnachtsstress nicht ertragen und bringen sich um, andere flüchten in Alkohol, Drogen, Geschenkekaufen und man selbst weiß auch nicht so recht, wie, wo und ob. Viele möchten sich trotzig verweigern und wären doch enttäuscht, wenn Weihnachten nicht wenigstens schön-fernsehen-mit-Kuchen würde. Diese Ambivalenz kennt ja jeder und sie zeigt sich auch im leuchtenden Weihnachtsschmuck, der überall herumhängt.

Das ist nicht Freude, die die Leute dazu bringt, so völlig übertrieben ihre Fenster zu schmücken, sondern nackte Angst vor dem Dunklen, dem Weihnachtsgott, dessen Rache man fürchtet. Um seinen Gesandten, den grausamen Weihnachtsmann, milde zu stimmen, seinen Blutdurst symbolisch zu stillen, ruinieren sich viele. Die Farbe des Mantels des Weihnachtsmannes erinnert noch an seinen früheren Beruf. Damals war er Menschenfleischer. Ihm ein Gedicht aufzusagen, ist reiner Opferbetrug, das weiß jedes Kind, deshalb versteckt es sich, wenn der Weihnachtsmann kommt, und stottert sein „schau mich nicht so böse an“. Wenn man genau hinsieht, erkennt man auch, dass diese amerikanisierten Weihnachtsmänner an den Balkonen schon lang nicht mehr klettern, sondern baumeln: an Schlingen, die man um ihren Hals gelegt hat. DETLEF KUHLBRODT