„Eine andere Welt ist möglich“

Offener Brief einer Politologie-Studentin zu den Streiks der StudentInnen

Unsere Aktionen sind in den Medien. Wir sind es nicht. Deshalb habe ich mich entschlossen, diesen Brief zu schreiben. Er ist eine persönliche Meinung. Er ist nur ein Teil der Bewegung. Ich schreibe ihn, weil ich es wichtig finde, dass auch unsere Inhalte wahrgenommen werden.

Uns wird vorgeworfen, wir wären zu perspektivlos, wir hätten keine Feindbilder, wir würden von allen verstanden aber nicht ernst genommen, wir würden nur darauf achten, in den Medien zu sein. Generation 2003: Wir mussten uns nicht gegen unsere Eltern auflehnen, wir mussten mit ansehen, wie der real existierende Sozialismus zu Ende gegangen ist, wir müssen jeden Tag zu jeder Stunde hören, dass Berlin, dass die Bundesrepublik pleite ist, dass es keine Alternative gibt. Wir wissen nicht, ob wir am Ende unseres Studiums eine Arbeit finden. Wir müssen uns damit auseinander setzen, dass wir unter einem größeren materiellen Druck stehen und gleichzeitig keine Ideen für eine andere Gesellschaft haben.

Uns wird vorgeworfen, wir seien konservativ, weil wir das bewahren wollen, was wir haben. Ist das nicht ein Anfang? Es ist auf jeden Fall nicht das Ende. Wir wollen keine neue 68er Generation sein. Ich möchte niemanden sterben sehen. Ich möchte nicht vom Turnschuh- zum Anzugträger werden und so tun, als ob ich meinen Idealen treu geblieben wäre.

Sicherlich wünsche ich mir bessere Studienbedingungen, dass meine Professoren Zeit hätten, dass statt hundert nur zwanzig Leute im Seminar sitzen – denn so könnte mal wieder wirklich inhaltlich gearbeitet werden – ich wünsche mir, dass es eine Vielfalt von Meinungen gibt, dass nicht alles unter dem Rationalitätsaspekt erläutert wird, ich wünsche mir kürzere Warteschlangen zur Sprechstunde.

Das ist aber nicht alles. Greife ich den Attac-Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ auf, dann weiß ich durchaus, was ich mir vorstelle: Es ist ein Traum von einem gerechteren Ist-Zustand: Ich möchte nicht, dass statt bei uns bei den Sozialhilfeempfängern gespart wird, ich möchte, dass Sozialhilfe nicht mehr nötig ist, dass jeder Mensch die Förderung erhält – auf materieller aber viel mehr auf psychischer und sozialer Ebene – die er benötigt, um ein selbst bestimmtes Leben zu führen. Ich möchte eine Gesellschaft, eine Welt, in der solidarisch gehandelt wird, in der das Wort „Umverteilung“ keine Panikreaktionen auslöst und nicht damit gedroht wird, dass die Unternehmen bei zu hohen Steuern ins Ausland abwandern.

Warum muss der Unternehmenschef ein Hundertfaches seiner ArbeiterInnen verdienen? Warum verdienen die so genannten Superstars Millionen von Euros, warum sollten sie unsere Vorbilder sein? Warum ist es erstrebenswert, berühmt zu sein? Warum kommen wir nicht dahin zurück, dass wir als wir selbst glücklich sind? Offensichtlich geht das in dieser Gesellschaft nicht. Ihr wird vorgeworfen, sie sei kalt, individualistisch, materiell. Wer aber etwas anderes möchte, dem wird vorgeworfen, er sei verrückt, weltfremd und es gäbe nun einmal keine Alternative.

Ich möchte eine friedliche Welt, und zwar einen Frieden, der nicht nur Abwesenheit von Krieg bedeutet. Ich möchte, dass die Menschenrechte von jedem akzeptiert und gelebt werden. Ich möchte, dass es keine Angst mehr gibt. Von den Politkern erwarte ich nicht mehr, als von jedem anderen Menschen auch: Die Welt so zu gestalten, dass man sich gut in ihr fühlt, dass Kinder ohne Angst, abgezogen oder abgeknallt zu werden, in die Schule gehen können, dass nicht die Sorge ist, ob der Nachbar ein größeres Auto hat oder ob mein Arbeitsplatz demnächst wegrationalisiert wird.

Wir müssen beginnen, den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu sehen. Und in einer globalisierten Welt gilt diese Erkenntnis weltweit. Verändern wir uns, verändern wir die Welt. Wir brauchen keine Feindbilder. Wir brauchen keine Gewalt. Wir brauchen unseren Mut und unsere Träume. Eine friedvolle Veränderung ist radikaler als brennende Autos und zerbrochene Schaufenster.

NICOLA HUMPERT, Berlin