Richter ohne Recht

Wie Iraks Richter und Staatsanwälte unter der Besatzung Verbrecher jagen: „Gerechtigkeit im Papierkorb“

BAGDAD taz ■ Alle Welt diskutiert darüber, wie, von wem und wo Saddam Hussein der Prozess gemacht werden darf. Der irakische Richter Ali Abdel Sattar hat da ganz andere Probleme. Er sitzt im „Haus der Gerechtigkeit“, einem von fünf Strafgerichten in der irakischen Hauptstadt Bagdad, und hat eine Flut von profanen Raub- und Mordfällen zu bearbeiten. Das macht er nun schon seit 15 Jahren mit einer kurzen Unterbrechung während des letzten Krieges.

Schon wenige Tage nachdem die US-Truppen in Bagdad einmarschierten, saß Sattar bereits wieder an seinem Schreibtisch. Eigentlich, dachte er damals, hätte er Überstunden machen sollen, mit den ganzen Plünderungen, Entführungen und Morden auf Bagdads Straßen. Aber die US-Amerikaner ignorierten die irakischen Gerichte und ließen jeden gefassten Kriminellen nach 48 Stunden wieder frei.

Das hat sich inzwischen geändert. Ein wichtiger Bestandteil der Irakisierungspolitik der USA ist es, Gerichtsfälle wieder Männern wie Abdel Sattar zu überlassen. Der richtet jetzt wieder nach den alten Gesetzten. Saddams Strafrecht und das der US-Besatzung seien praktisch das Gleiche, erzählt er. Nur, dass die Menschen einst mehr Respekt vor den Gesetzten hatten. Warum? Der Strafrichter lächelt. „Vielleicht, weil sie früher erbarmungsloser durchgesetzt wurden.“ Heute sei das alles anders, sagt Sattar. „Die irakischen Polizisten riskieren auf der Straße ihr Leben, bringen die Kriminellen zu uns und dann werden sie von den Amerikanern einfach wieder freigelassen“, klagt er. Er versteht das nicht: „Bekommen in Amerika Räuber und Mörder ebenfalls eine zweite Chance?“, fragt er.

Wie überall im Irak herrscht auch bei den Gerichten ein Parallelsystem, in dem irakische Richter und Staatsanwälte von US-Amerikanern „beraten“ werden. Auch in den Ministerien haben nicht die Minister das eigentliche Sagen, sondern deren US-amerikanische Berater. Bei der Polizei gibt nicht der irakische Offizier den letzten Befehl, sondern der Kommandant der US-amerikanischen Militärpolizei.

In Abdel Sattars Gericht gibt es noch ein zusätzliches Problem: US-Amerikaner und Iraker blockieren sich gegenseitig. Bei einem Banküberfall, erzählt der Richter, nehmen die Amerikaner das Beweismaterial und die Tatwaffe mit, die Iraker bekommen den Untersuchungshäftling. Dann soll Abdel Sattar den Fall bearbeiten – ohne Beweismaterial. Gelegentlich will er auch einen US-amerikanischen Offizier, der bei der Festnahme anwesend war, als Zeugen berufen. „Oft ist der dann schon wieder zu Hause oder wurde nach Afghanistan oder Kovoso versetzt“, ärgert sich Abdel Sattar. Die US-Gerichtsberater sind vor allem an jenen Fällen interessiert, die „im Interesse der Besatzer sind“, so fasst es Abdel Sattar zusammen. Er erzählt von einem Bekannten, der im Sommer vier Monate im Gefängnis verbrachte, weil er die damalige Ausgangssperre gebrochen hatte.

Da liegt dem irakischen Staatsanwalt Muhammad Latif, der im „Haus der Gerechtigkeit“ das Nachbarzimmer zu Richter Abdel Sattar bezieht, ein anderer Fall weit mehr am Herzen. Einmal sprengte die Polizei einen Prostituierten- und Zuhälterring in Bagdad. „Derartiges widerspricht nicht nur unseren Moralvorstellungen, sondern ist eindeutig auch ein Gesetzesbruch“, sagt der heute noch aufgebrachte Staatsanwalt. Drei Tage lang ermittelte er. Er wollte gerade die Anklageschriften schreiben, da brachte ihm ein Gerichtsbote die Nachricht: Die US-Amerikaner hatten alle Verdächtigen über Nacht freigelassen.

Bald kamen Iraker in sein Zimmer gestürmt und beschwerten sich, dass das illegale Bordell gleich neben der Schule wieder in Betrieb sei. „Die Leute haben mich fast physisch vor Wut angegriffen“, erinnert sich Staatsanwalt Latif. Er kann nur noch auf seinen Papierkorb deuten. „Da ist die irakische Gerechtigkeit gelandet.“ KARIM EL-GAWHARY